Aktivitäten der Evangelischen Studentengemeinden
2. August 1972
Information Nr. 731/72 über die derzeitige Struktur und Aktivitäten der Evangelischen Studentengemeinden in der DDR (ESG)
Über die gegenwärtige Struktur der ESG in der DDR ist Folgendes bekannt:
1. Der Beirat
(legislatives, gesetzgebendes Organ für alle Fragen der Gesamtarbeit) wird von der Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen in der DDR mit der Wahrnehmung der Verantwortung für die Gesamtarbeit der Evangelischen Studentengemeinden in der DDR beauftragt. Er beruft alle Mitarbeiter der Geschäftsstelle, kontrolliert und verabschiedet den Etat der Geschäftsstelle und ist der Geschäftsstelle gegenüber weisungsberechtigt.
Zusammensetzung:
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Vorsitzender der Studentenpfarrerkonferenz
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Pfarrer Kramer1/Magdeburg
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Referent der Kirchenleitung für die ESG
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zwei Studentenpfarrer
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ein Vertreter des Arbeitskreises für Mission
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vier Jungakademiker
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bis zu sechs Studenten
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ein Vertreter der Freikirchen
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ein Vertreter des Arbeitskreises Mission und Ökumene
2. Geschäftsstelle
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Leiter: Dr. Udo Skladny2
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Pastorin im Reisedienst: F. Schulze3
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studentischer Mitarbeiter: R. Graupner4
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Sekretäre
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Die Stelle des Ökumenenreferenten ist unbesetzt.
Von der Geschäftsstelle werden die inhaltlichen und organisatorischen Vorbereitungen aller zentralen Konferenzen getroffen, wie Neue Vertrauensstudentenkonferenz, Alte Vertrauensstudentenkonferenz, Ökumenische Konferenzen, Studentenkonferenzen.
Insgesamt sind das ca. 20 bis 25 jährlich.
Es werden Gemeindebesuche durchgeführt und die Teilnahme an Regionaltreffen organisiert. Von der Geschäftsstelle wird die Zeitschrift »Kontakt«5 zusammengestellt und verbreitet. (Sie hat derzeitig eine Auflage von 600 Stück.)
Seitens der Geschäftsstelle erfolgt außerdem eine enge Kooperation mit dem Studentengemeinderat, dem Beirat, der Studentenpfarrerkonferenz und den Gemeinden. Darüber hinaus gewährt die Geschäftsstelle Finanzbeihilfen für Studenten.
(Die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen ESG und der Geschäftsstelle ist unterschiedlich. Intern sind dem MfS einige Äußerungen von Studentenpfarrern und Angehörigen von ESG bekannt, wonach diese eine gewisse Bevormundung und Kontrolle seitens der Geschäftsstelle befürchten, die sich insbesondere auf ihre Partnerschaftsbeziehungen zu westdeutschen ESG hemmend auswirken könnten. Deshalb wollen diese ESG zunächst hinsichtlich der Gestaltung einer engen Zusammenarbeit mit der Geschäftsstelle eine abwartende Haltung einnehmen.)
Die Geschäftsstelle verfügt über Verbindungen zu Kirchenleitungen und zentralen kirchlichen Stellen, z. B. zum Christlichen Weltstudentenbund (WSCF),6 zu verschiedenen ausländischen christlichen Studentenbewegungen, zu Jungakademikern sowie zur ESG-Geschäftsstelle der BRD in Stuttgart, besonders zu ihrem Leiter Dr. Hilke.7
3. Die Studentenpfarrerkonferenz
ist der Konvent aller evangelischen Studentenpfarrer. In diesem Gremium werden u. a. Zielstellung und Inhalt der Arbeit besprochen. Einmal im Jahr erfolgt die Einberufung der Studentenpfarrerkonferenz unter Teilnahme der katholischen Studentenpfarrer unter Vorsitz von Hüttel von Heidenfeld8 (Leipzig).
(Eine namentliche Übersicht über die evangelischen Studentenpfarrer wird in der Anlage 1 beigefügt.)
4. Der Studentengemeinderat
ersetzt den bisherigen sogenannten »kleinen Beirat« und gilt als eine repräsentative Interessenvertretung aller evangelischen Studentengemeinden. Er hat zurzeit 23 Mitglieder (s. Anlage).
Nach den dem MfS vorliegenden Informationen wird die Arbeit in den ESG durch diese genannten Gremien der ESG in den letzten Monaten aktiviert.
Nach bisherigen, zum Teil unvollständigen Übersichten werden die Veranstaltungen der ESG in der DDR jährlich von ca. 20 000 Studenten besucht. In den 30 evangelischen Studentengemeinden in der DDR besteht ein aktiver Kern von ca. 4 bis 6 000 Mitgliedern.
In letzter Zeit zeichnet sich verstärkt ab, dass die ESG von der Methode der gesellschaftlichen Passivität abgeht und das gesellschaftliche Engagement mehr in den Vordergrund stellt.
Die Leitung der ESG hat darauf orientiert, dass sich die Mitglieder der ESG intensiver mit der sozialistischen Umwelt befassen und den Marxismus/Leninismus »analysieren« sollten. Es komme darauf an, »staatentfremdete Gruppen der ESG zu einer engagementsfreudigen Haltung zu bewegen.«
Der Schwerpunkt der Arbeit besteht nach wie vor in der weiteren Gewinnung von Studenten als Mitglieder der ESG. Gleichzeitig wird die Mitgliedschaft in der FDJ und die Übernahme von Funktionen innerhalb dieser Organisation angestrebt, offensichtlich mit dem Ziel, dort offiziell und vor einem größeren Zuhörerkreis Kritik an den bestehenden Verhältnissen in der DDR zu üben.
In diesem Zusammenhang muss eingeschätzt werden, dass von Mitgliedern der ESG diese kirchliche Organisation zum Teil als »Freiraum« für unkontrollierbare Diskussionen betrachtet wird. Dem MfS ist bekannt, dass Zusammenkünfte der ESG u. a. auch dazu benutzt werden, westliche Publikationen auszuwerten.
Vonseiten der Geschäftsstelle der ESG in der DDR sowie von einer Reihe Studentenpfarrer sind gegenwärtig Bemühungen im Gange, das 1953 angenommene Statut der ESG9 zu überarbeiten. Darin sollen u. a. strukturelle Veränderungen festgelegt werden mit dem Ziel, die Körperschaften der ESG zu erweitern. Gleichzeitig sollen damit eine weitere Verselbstständigung und ein größeres Mitspracherecht der ESG erreicht werden.
Der katholische10 Studentenpfarrer Hüttel von Heidenfeld (Leipzig) erklärte in diesem Zusammenhang, die Arbeit der ESG habe sich in den letzten Jahren wesentlich geändert und entspreche nicht mehr dem Statut. In der Gegenwart beschränke sich die ESG nicht mehr auf die »Verkündigung des Evangeliums«, sondern orientiert sich mehr auf »praktische Themen des Lebens«, wie gesellschaftliches Engagement, kritische Mitarbeit, Freizeitgestaltung, politische und philosophische Streitgespräche, Behandlung sexueller Probleme.
Gegen die Bemühungen zur Veränderung des Statuts der ESG sprechen sich jedoch gleichzeitig andere Studentenpfarrer aus. Sie äußern, die Arbeit könne auch ohne Änderung des Statuts in den gegenwärtigen Gleisen weiterlaufen. Sie befürchten nach Statutänderung Auseinandersetzungen mit dem Staat und Erschwerung ihrer Arbeit.
Im Verlaufe der letzten Monate haben Studentenpfarrer der ESG stärkere Aktivitäten entwickelt, um die ESG-Arbeit auch nach Abschluss des Studiums nicht abreißen zu lassen.
In diesem Zusammenhang konnte eine Zunahme von Jungakademikerkreisen festgestellt werden, die unter den gleichen Bedingungen und Gesprächsrunden zusammenkommen wie die ESG.
Vom MfS wurde festgestellt, dass von der BRD und von Westberlin aus in den letzten Monaten verstärkt Bestrebungen bestehen, die Partnerschaftsarbeit der ESG zu aktivieren.
Ziel jeder ESG in der BRD und in Westberlin ist es, mindestens je eine Partnerschaft (früher Patengemeinschaft) zu einer ESG in der DDR aufzunehmen. Durch Initiative der ESG der BRD und Westberlins unterhalten die ESG in der DDR infolge dessen jeweils zu mehreren ESG in der BRD und Westberlin Partnerschaftsbeziehungen.
Die Partnerschaftsarbeit der ESG ist nach wie vor auf eine angeblich bestehende geistliche Einheit zwischen den Kirchen in der DDR und der BRD gerichtet.
Zur Aktivierung der Partnerschaftsarbeit wurde in der BRD eine Partnerreferentenkonferenz gebildet. Als Leiter dieses Gremiums wurde [Name, Vorname] aus Freiburg im Breisgau eingesetzt.
Die Partnerreferentenkonferenz in der BRD bemüht sich in letzter Zeit um Abbau und Ausschaltung von vordergründig gegen die DDR gerichteten Tendenzen in der Partnerschaftsarbeit. Damit soll erreicht werden,
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die Partnerschaftsarbeit abzusichern,
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die Partnerschaftsbeziehungen in die DDR zu legalisieren (es sollen Kontakte zur FDJ bis zum Zentralrat zur Abdeckung aufgenommen werden),
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die Wachsamkeit der staatlichen Organe der DDR herabzusetzen.
Durch die Partnerreferentenkonferenz der BRD wird in letzter Zeit ein Schulungszyklus über die DDR organisiert. Dabei werden den Studentengemeinden der BRD zentral durch die Partnerreferentenkonferenz bestimmte Themen vorgegeben. In sogenannten Arbeitskreisen und Klein-Kreisen der ESG der BRD werden diese Themen an festgesetzten Diskussionsabenden erörtert. Im ersten Schulungszyklus, der zurzeit noch nicht beendet ist, werden Fragen der Ökonomie des Sozialismus studiert und diskutiert.
Die Literaturhinweise der Partnerreferentenkonferenz der BRD für den Schulungszyklus über die DDR beinhalten u. a.
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»Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR«,11
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»Wörterbuch der Ökonomie des Sozialismus«,12
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»Die DDR – Entwicklung, Aufbau und Zukunft«,13
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»Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung«,14
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»Nationalisierung und Demokratisierung«,15
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»Das neue ökonomische System in der DDR und der ČSSR«.16
Die Erkenntnisse aus diesem Studium und aus den Diskussionsabenden sollen mit Grundlage für die in der DDR (zumeist in der Hauptstadt der DDR) organisierten Partnerschaftstreffen bilden. In letzter Zeit wird festgestellt, dass die westdeutschen Teilnehmer an diesen Treffen auch weitgehend die Thematik bestimmen und sich mit ihren Ansichten Gehör und Zustimmung verschaffen.
Diese Treffen finden überwiegend in kircheneigenen Objekten und Privatwohnungen statt. Teilnehmer sind Studenten der ESG der DDR, der BRD und Westberlins, die vorher von den Studentenpfarrern dazu ausgewählt werden.
Die Teilnehmerzahl bei Partnerschaftstreffen variiert von 15 bis 30 Personen. Die Reisen westdeutscher und Westberliner Studenten der ESG zu Partnerschaftstreffen in der DDR werden von den westdeutschen und Westberliner ESG finanziert; zum Teil werden aber auch finanzielle Mittel von sogenannten gesamtdeutschen Einrichtungen in der BRD dazu verwandt.
Die von der Geschäftsstelle der ESG in der DDR – offensichtlich als Formalität – herausgegebene Weisung, die Partnerschaftstreffen vonseiten der ESG der DDR in der Geschäftsstelle oder bei der zuständigen staatlichen Institution anzumelden, wird in der großen Mehrheit von den ESG-Gruppen umgangen.
Dem MfS wurde bekannt, dass sich Angehörige der ESG-Gruppen in der DDR verstärkt im Rahmen der Partnerschaftsarbeit um die Schaffung persönlicher Kontakte nach der BRD und um die illegale Beschaffung von Literatur aus der BRD und dem kapitalistischen Ausland bemühen.
Diese Information ist infolge Quellengefährdung nicht für eine öffentliche Auswertung bestimmt.