Bahnbetriebsunfall auf dem Bahnhof Schweinsburg-Culten
27. November 1972
Information Nr. 1076/72 über den schweren Bahnbetriebsunfall auf dem Bahnhof Schweinsburg-Culten, [Kreis] Werdau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt am 30. Oktober 1972
Am 30.10.1972, 7.28 Uhr, ereignete sich auf der eingleisigen elektrifizierten Transitstrecke Leipzig – Karlovy Vary im Bahnhof Schweinsburg-Culten (km 67 550) ein frontaler Zusammenstoß zwischen dem von Leipzig nach Karlovy Vary verkehrenden »Karola-Express« Ext 348 und dem von Aue nach Berlin fahrenden D 273.
Die Auffahrgeschwindigkeit betrug zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes beim Ext 348 ca. 90 km/h und beim D 273 ca. 40 km/h.
Durch den Eisenbahnbetriebsunfall wurden 25 DDR-Bürger einschließlich des Triebfahrzeugpersonals beider Züge getötet, während 72 Personen mit unterschiedlichen Verletzungsgraden zur stationären Behandlung eingeliefert wurden. Unter den 13 ambulant behandelten Personen befanden sich zwei rumänische und ein ČSSR-Bürger.
Der Sachschaden beträgt nach Angaben der DR 1 418 500 Mark.
Der Streckenabschnitt wurde am 31.10.1972, 13.00 Uhr, nach Beendigung der Aufräumungsarbeiten für den vollen Zugbetrieb wieder freigegeben.
Die durchgeführten Untersuchungen zur Aufklärung des Herganges und der Unfallursachen ergaben eindeutig, dass der Zusammenstoß durch das Überfahren des auf »Halt« zeigenden Ausfahrtsignals E im Bahnhof Schweinsburg-Culten seitens des Triebfahrzeugführers des Ext 348 [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1941, wohnhaft gewesen: Oranienburg, [Straße, Nr.], Triebfahrzeug-Bahnwerk Berlin-Karlshorst schuldhaft verursacht wurde.
Über den Hergang und die bei dem Zugunglück festgestellten begünstigenden Bedingungen wurde während der Untersuchungen festgestellt:
Der Dispatcher für den Streckenabschnitt, [Name 2], wies den Fahrdienstleiter des Bahnhofes Schweinsburg-Culten an, die beiden Züge außerplanmäßig auf dem Bahnhof Schweinsburg-Culten kreuzen zu lassen. Dadurch sollte die angespannte Betriebslage auf dem Streckenabschnitt Crimmitschau – Werdau (Auslastung zu 110 %) entlastet werden. (Dieser Streckenabschnitt war wegen Instandhaltungsmaßnahmen der Fahrleitung vom 29.6.1972, 23.35 Uhr, bis 30.10.1972, 4.11 Uhr, gesperrt gewesen.)
Der ab 4.00 Uhr einsetzende Nebel verringerte die Sichtweiten auf 50 bis 70 m.
Das Kreuzen von Zügen auf dem Bahnhof Schweinsburg-Culten ist entsprechend den eisenbahnbetrieblichen und sicherungstechnischen Vorschriften zulässig und wurde in der Vergangenheit planmäßig bzw. bei angespannten Betriebslagen auch außerplanmäßig praktiziert.
Der Fahrdienstleiter, [Name 3], des Bahnhofes Schweinsburg-Culten handelte bei der außerplanmäßigen Kreuzung der Züge (Ext 348 und D 273) nach den Bestimmungen der seit dem 15.6.1970 gültigen Fahrdienstvorschrift der DR. Die sicherungstechnischen Anlagen auf dem Bahnhof funktionierten ordnungsgemäß.
Die Überprüfung der eisenbahnbetrieblichen Vorschriften ergab, dass die geltenden Vorschriften bei unsichtigem Wetter (Nebel) gewisse Unsicherheiten enthalten. Unter anderem wird bestimmt, dass die Verantwortung für die sichere Durchführung der Zugfahrt das Triebfahrzeugpersonal trägt.
Die Fahrdienstvorschrift der DR (§§ 36 und 49)1 beinhaltet,
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dass der Triebfahrzeugführer die Geschwindigkeit des Zuges nach eigenem Ermessen festzulegen hat, wenn er bei unsichtigem Wetter den Standort der Signale nicht bestimmen kann, bzw.
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dass der Zug bei einem außerplanmäßigen Halt in einem Bahnhof am Einfahrtsignal nicht anzuhalten ist, wenn die verhinderte Ausfahrt signalmäßig vorangekündigt wird.
Eine doppelte Sicherung für den Fahrbetrieb durch das Einschalten der stationären Personale [sic!] der DR ist in diesen geltenden Fahrdienstvorschriften nicht vorgesehen.
Im Gegensatz dazu legte die Fahrdienstvorschrift der DR, § 25 (vom 1.4.1962 bis 15.6.1970 gültig), verbindlich fest, dass bei erschwerter Signalbeobachtung durch unsichtiges Wetter (Nebel) der Zug bei außerplanmäßigem Halt im Bahnhof vor dem Einfahrtsignal zu stellen ist, auch wenn die verhinderte Ausfahrt signalmäßig vorangekündigt wird.
Die Untersuchungen im Motorwagen des Ext 348 ergaben, dass zum Zeitpunkt des Zugzusammenstoßes der Triebwagenführer [Name 1] allein auf dem Fahrstand war. Der Beimann, [Name 4, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1935, wohnhaft gewesen: Königs Wusterhausen, [Straße, Nr.] Waldstraße 18, Triebfahrzeug-Bahnwerk Berlin-Karlshorst, befand sich auf dem Rückweg vom Mitropa2-Abteil des Ext 348, wo er zwei Flaschen Margonwasser gekauft hatte.
Die Blutuntersuchung des Triebfahrzeugpersonals ergab bei dem Triebfahrzeugführer 0,2 ‰ und bei [Name 4] 0,1 ‰ Alkoholgehalt (im Urin wurden 0,5 ‰ bzw. 0,2 ‰ festgestellt).
Nach Aussagen der Stewardess im internationalen Zugbegleitdienst, [Name 5], habe sie gemeinsam mit dem tödlichen Verunglückten am 30.10.1972 nach ihrer Ankunft in Leipzig in der Zeit von 0.30 bis 1.30 Uhr insgesamt 15 Flaschen »Radeberger Pilsner« getrunken. Anschließend wollen sich alle Beteiligten im Triebwagenzug zur Ruhe begeben haben.
Die vom Triebfahrzeugpersonal, der Zugstewardess und auch dem Mitropa-Personal praktizierte Übernachtung erfolgte unkontrolliert. Diese Übernachtungsweise garantierte keineswegs die vollständige Dienstfähigkeit zum Zeitpunkt des Fahrtantritts (30.10.1972, 5.00 Uhr).
In Auswertung der Unfallursachen sollte die Leitung des Ministeriums für Verkehrswesen veranlasst werden,
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die Fahrdienstvorschriften der DR auf ihre Zuverlässigkeit zu prüfen, insbesondere inwieweit diese den Erfordernissen der Sicherheit im Bahnverkehr bei unsichtigem Wetter entsprechen;
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den Einsatz von technischen Hilfsmitteln, z. B. Funkmittel, zur Erhöhung der Fahrsicherheit zu prüfen;
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die Einhaltung der Arbeitsschutzanordnungen, insbesondere über das Verbot des Alkoholausschankes an im Dienst befindliche Eisenbahner, auf ihre Einhaltung streng zu kontrollieren sowie Maßnahmen einzuleiten, die eine Aufnahme des Dienstes von unter Alkoholeinfluss stehenden Eisenbahnern ausschließen.