Bergung einer Kindesleiche aus der Spree
14. November 1972
Information Nr. 1007/72 über die Bergung einer Kindesleiche aus der Spree im Grenzabschnitt Oberbaumbrücke der Hauptstadt am 30. Oktober 1972 und das Ergebnis der Untersuchung dieses Vorkommnisses
Am 30.10.1972, gegen 13.30 Uhr, wurde den im Grenzabschnitt Oberbaumbrücke – Gröbenufer eingesetzten Grenzsicherungskräften der NVA durch Zuruf von Angehörigen des Westberliner Zolls bekannt, dass vom Westberliner Ufer ein Kind in die in der ganzen Breite zum Territorium der DDR gehörende Spree gefallen sei.1
Es wurden daraufhin unverzüglich alle erforderlichen Maßnahmen zur Bergung des Kindes getroffen.
Bis zum Beginn der unmittelbaren Bergungshandlungen hatten sich am Spreeufer auf Westberliner Gebiet ca. 20 uniformierte Kräfte der Westberliner Polizei, der Feuerwehr und des Zolls mit je einem Funkstreifenwagen, Feuerlöschzug und Sankra2 eingefunden sowie ca. 300 bis 400 Zivilpersonen angesammelt.
Gegen 14.20 Uhr, unmittelbar vor der Aufnahme der Suche durch Taucher der Deutschen Volkspolizei, ersuchte ein Offizier der Westberliner Polizei über Megaphon um Bestätigung des Einsatzes von eigenen Kräften zur Suche und Bergung. Eine Bestätigung dazu erfolgte nicht.
Im Ergebnis des Einsatzes wurde um 15.05 Uhr ca. 100 m unterhalb der Oberbaumbrücke durch Taucher der Feuerwehr des PdVP Berlin ein Kind männlichen Geschlechts, ca. sechs bis acht Jahre alt, aufgefunden und geborgen. Die Bergungshandlungen wurden von Westberliner Gebiet durch mehrere Zivilpersonen gefilmt und fotografiert.
Das Kind wurde umgehend ins Krankenhaus überführt, wo durch den diensthabenden Arzt der Tod festgestellt wurde.
Am 30.10.1972, gegen 21.15 Uhr, meldete sich die in Westberlin wohnhafte türkische Staatsbürgerin [Name, Vorname] in Begleitung von zwei weiteren mit ihr verwandten türkischen Staatsbürgern bei der Deutschen Volkspolizei. Die Kindesleiche wurde von ihnen als der Sohn der [Name, Vorname], Katrancı,3 Cengaver, geboren 1964, wohnhaft Berlin (West) 61, [Straße, Nr.], Staatsangehörigkeit Türkei, identifiziert.
Angaben der [Name, Vorname] zufolge hatte das Kind in Begleitung eines weiteren 12-jährigen Kindes vom Spreeufer aus Schwäne gefüttert und war dabei in die Spree gefallen.
Die Kindesmutter bedankte sich für die erwiesene Unterstützung durch die Organe der DDR und bat um Überführung der Leiche nach Westberlin.
In Beantwortung eines Fernschreibens des Präsidiums der Deutschen Volkspolizei Berlin an den Senator für Inneres in Westberlin, worin er über die Bergung einer unbekannten Kindesleiche aus der Spree informiert wurde, teilte dieser am 31.10.1972, 13.10 Uhr, die Bestätigung des Sachverhaltes sowie der Personalien der Kindesleiche mit und erbat die Freigabe der Leiche.
Am 3.11.1972, um 10.00 Uhr, wurde die Kindesleiche durch das Staatliche Bestattungswesen der Hauptstadt an das Westberliner Bestattungsinstitut Grieneisen4 übergeben und von diesem nach Westberlin übergeführt.
Im Ergebnis der Untersuchung dieses Vorkommnisses ist festzustellen, dass der tragische Unglücksfall u. a. dadurch begünstigt wurde, dass sich an der zum Westberliner Territorium gehörenden Ufermauer keine ausreichenden Schutzeinrichtungen (Schutzzaun, Maueraufbau o. ä.) befinden sowie seitens der Westberliner Polizei keine Maßnahmen gegen fahrlässiges und leichtsinniges Verhalten von Personen an der Ufermauer unternommen werden.
Während der Bergungshandlungen war z. B. zu beobachten, dass durch den Andrang und die Bewegung Hunderter Zivilpersonen am Westberliner Gröbenufer5 unmittelbare Gefahr für weitere Unglücksfälle entstand.
Durch die anwesenden Westberliner Polizei- und Zollkräfte wurden keinerlei Sicherheitsvorkehrungen zur Abwendung weiterer Vorfälle getroffen.
In diesem Zusammenhang ist weiter festzustellen, dass in dem betreffenden Grenzabschnitt seit längerer Zeit provokatorische Handlungen gegen die Staatsgrenze und die Sicherheitskräfte der DDR von Westberliner Territorium aus unternommen werden.
So erfolgten im Zeitraum von Januar bis Oktober 1972 vom Westberliner Gröbenufer aus 13 gegen die Staatsgrenze und die Grenzsicherungskräfte der DDR gerichtete Handlungen, davon
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drei Fälle des Beschießens der Grenzsicherungskräfte aus einer Pistole bzw. mittels KK-Waffen (25.3.1972, 18.30 Uhr, durch eine männliche Person, ca. 30 Jahre alt, mittels Pistole; 7.8.1972, 22.50 Uhr, durch unerkannte Personen aus KK-Waffe; 24.8.1972, 18.30 Uhr, durch eine männliche Person mittels KK-Gewehr);6
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sechs Fälle provokatorischer Grenzverletzungen durch Betreten der Eisdecke der zugefrorenen Spree bzw. durch Schwimmen während der Sommermonate;
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drei Fälle des Beschimpfens der eingesetzten Grenzsicherungskräfte der NVA;
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ein Fall des Bewerfens eines Grenzsicherungsbootes mit Steinen (26.10.1972, 18.30 Uhr, durch acht Jugendliche).
Darüber hinaus hat sich bereits seit Jahren gewohnheitsmäßig der Zustand entwickelt, dass vom Westberliner Gröbenufer aus täglich mehrere Personen in der Spree (und damit auf dem Territorium der DDR) angeln, ohne dass seitens der zuständigen Westberliner Stellen Maßnahmen zur Unterbindung derartiger Praktiken eingeleitet werden.
Es kann eingeschätzt werden, dass nur der Umsicht und Besonnenheit der eingesetzten Grenzsicherungskräfte zu verdanken ist, dass weitere Auswirkungen der provokatorischen Handlungen verhindert werden konnten.
Es wird empfohlen, die angeführten begünstigenden Bedingungen für derartige Vorkommnisse und Grenzzwischenfälle in geeigneter Form an die Westberliner Seite heranzutragen mit dem Ziel, dass ihrerseits die erforderlichen Maßnahmen zur Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit im Abschnitt Gröbenufer getroffen werden.