Besuch des Westberliner Bischofs in der Hauptstadt der DDR
2. Juni 1972
Information Nr. 538/72 über den Besuch von Bischof Scharf/Westberlin am 23. Mai 1972 in der Hauptstadt der DDR
Dem MfS wurde über den Besuch von Bischof Scharf1/Westberlin am 23.5.1972 in der Hauptstadt der DDR bisher Folgendes bekannt:
Bischof Scharf wurde in der Hauptstadt der DDR von Oberkonsistorialrat Hootz2 erwartet und von diesem in die Wohnung von Bischof Schönherr3 in Berlin-Weißensee, [Straße, Nr.], gebracht. Dort wurde er von Schönherr, der sich kurzfristig entschlossen hatte, an der Vorstandssitzung der Konferenz der Kirchenleitungen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR – die am 23.5.1972 in Halle/Saale stattfand – nicht teilzunehmen, empfangen.
In der Wohnung von Schönherr fanden im Verlaufe des 23.5.1972 mehrere Treffen mit Kirchenpersönlichkeiten der Evangelischen Kirche der DDR und mit ehemaligen Bekannten Scharfs statt.
Am Vormittag führten Propst Ringhandt4/Berlin und Konsistorialpräsident Kupas5/Berlin eine Zusammenkunft mit Scharf durch.
Am Nachmittag erfolgte eine Zusammenkunft mehrerer Mitglieder der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (Generalsuperintendent Lahr6/Potsdam, Hanse7/Eberswalde, Schmitt8/Berlin, Superintendent Dr. Pietz9/Berlin, Präses Burkhardt10/Berlin, Superintendent Steinlein11/Nauen, Superintendent Forck12/Luckenwalde, Pfarrer Schulz13/Drehna und Oberkonsistorialrat Schröder14/Berlin) mit Bischof Scharf.
Soweit dem MfS bekannt wurde, beinhalteten die Gespräche Scharfs mit dem zuletzt genannten Personenkreis vorwiegend persönliche Erinnerungen und Probleme.
In dem Gespräch, das Scharf mit Schönherr, Ringhandt und Kupas führte, seien u. a. folgende Probleme angesprochen worden:
Ringhandt habe darüber berichtet, dass Prof. Weizsäcker15 während der Bundestagsdebatte eine Person zu ihm geschickt habe mit dem Auftrag, Ringhandt solle Vertreter der DDR-Kirchen zum öffentlichen Auftreten gegen die Ostverträge16 gewinnen.17 Ringhandt sei über diesen Auftrag empört gewesen und habe Scharf gebeten, bei einem persönlichen Zusammentreffen mit Weizsäcker diesen entsprechend zu informieren.
Scharf habe u. a. darüber informiert, dass er in Vorbereitung der Synode der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg ein mehrstündiges Gespräch mit Bundeskanzler Brandt18 über die Rolle und die Aufgaben der Kirche in der BRD zur Durchsetzung der »neuen Ostpolitik« geführt habe. Dieses Gespräch habe zur Korrektur seiner – Scharfs – bisherigen Auffassungen beigetragen, und Scharf habe Brandt zugesichert, ihn in seinen politischen Bemühungen voll zu unterstützen.
Zwischen Bundeskanzler Brandt und Bischof Scharf seien nach Darstellung Scharfs im Ergebnis dieser Zusammenkunft folgende Punkte vereinbart worden:
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Durchsetzung einer Kirchenpolitik, die den politischen Realitäten mehr Rechnung trägt. Eine gesamtdeutsche Kirchenstruktur sei nicht mehr aufrechtzuerhalten.
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(Daher sei Scharf auch für die Trennung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg19 sowie für die Auflösung des gesamtdeutschen Rates der »Evangelischen Kirche der Union«20 eingetreten.)
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Die Anerkennung der Realitäten (Existenz von zwei deutschen Staaten) durch die Kirche würde Voraussetzungen dafür schaffen, die Einflussnahme auf die DDR zu verstärken.
Im weiteren Gesprächsverlauf habe sich Scharf zur gegenwärtigen Situation in den Kirchenleitungen Westberlins geäußert. Er habe eingeschätzt, eine Gruppe unter Leitung von Generalsuperintendent Helbich21 vertrete die Konzeption der CDU/CSU und würde massive Angriffe gegen Scharf führen. Diese Gruppe trete nach wie vor für die »Einheit« der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg ein und habe in den letzten Wochen Aktivitäten gegen die Beschlüsse der Juni-Synode in Westberlin (Auflösung des gesamtdeutschen Rates der EKU) entwickelt. Der Gruppe um Helbich sollen u. a. angehören: Superintendent Hasper22/Berlin-Steglitz, Superintendent Rieger23/Berlin-Schöneberg, Superintendent George24/Berlin-Charlottenburg, der Laie Kessler25 (ehemaliger Senatsbeamter) und der Laie Pfennig26 (Senatsbeamter für Finanzwesen).
Scharf habe weiter geäußert, er besitze in dem Konsistorialpräsidenten Dr. Flor27 eine wertvolle Stütze hinsichtlich seiner Politik.
Bischof Schönherr habe Scharf gegenüber u. a. zu verstehen gegeben, dass die Gruppe um Superintendent Steinlein/Nauen besonders oppositionell eingestellt sei und den Realitäten der Evangelischen Kirche in der DDR nicht Rechnung trage. Der Einfluss der Steinlein-Gruppe könne nur durch ein zielstrebiges Auftreten der realen Kirchenleitungsmitglieder zurückgedrängt werden.
Bischof Scharf hielt sich am 23.5.1972 von 10.20 Uhr bis gegen 17.00 Uhr in der Hauptstadt der DDR auf, wobei er über die gesamte Zeit nur in der Wohnung von Bischof Schönherr war.
An der weiteren Aufklärung des Inhalts der von Bischof Scharf in der Hauptstadt geführten Gespräche wird gearbeitet.
Dem MfS wurde weiter bekannt, dass Bischof Scharf in einem Grußwort auf der Haupttagung der Männerarbeit der Evangelischen Kirche (27. bis 29.5.1972) in Westberlin forderte, jeder solle »jetzt und weiterhin« die Möglichkeiten nutzen, um »in der persönlichen Begegnung mit den Freunden in der DDR Kontakte zu erneuern«.
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