Einschätzung des Reiseverkehrs, »Führungsgruppe Westberlin«
2. April 1972
Information Nr. 307/72 über eine interne Zwischeneinschätzung des Reise- und Besucherverkehrs durch die »Führungsgruppe Westberlin«
Wie aus einer internen Information zuverlässig bekannt wird, hat der Regierende Bürgermeister von Westberlin, Schütz,1 während seiner Abwesenheit von Westberlin über Ostern kurzfristig eine »Führungsgruppe Westberlin«2 eingesetzt, der als Vertreter des Westberliner Senats Bürgermeister Neubauer3 und der Chef der Senatskanzlei Ulrich Müller4 sowie als Vertreter des SPD-Landesvorstandes der stellvertretende Landesvorsitzende Dr. Klaus Riebschläger5 und der Landesgeschäftsführer Müller6 angehören.7
Diese Führungsgruppe hat die Aufgabe, alle auf Westberliner Seite im Zusammenhang mit der Osterregelung8 auftretenden Grundsatzfragen zu klären, bei besonderen Komplikationen kurzfristig Schütz und Brandt9 zu informieren und aus eingehenden Berichten der Westberliner Polizei, des Zolls, Westberliner Pressevertreter und von SPD-Funktionären Fakten für eine analytische Auswertung der praktischen Erfahrungen der Osterregelung zusammenzustellen.
Im Ergebnis der einschließlich des Karfreitags vorliegenden Berichte der Polizei, des Zolls, der Pressevertreter und praktischer Erfahrungen von »Ostbesuchern« wurde nach ausführlicher Diskussion von der Führungsgruppe eine interne Zwischeneinschätzung erarbeitet, die in Kurzform als Situationsbericht an Schütz und Brandt übermittelt wurde. Diese Zwischeneinschätzung umfasst inhaltlich folgende Probleme:
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Von östlicher Seite wurde generell eine zügige, höfliche und teilweise bei Nichtbeachtung der Einreisebestimmungen durch Westberliner eine großzügige Abfertigung von den Grenzkontrollkräften vorgenommen. Das betraf sowohl Einreise- als auch Ausreiseformalitäten.
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Der rege Fahrzeug- und Fußgängerverkehr konnte von der östlichen Seite ohne größere Schwierigkeiten bewältigt werden. Damit sei der Beweis erbracht, dass es für die DDR keine ernstzunehmenden Argumente technisch-organisatorischer Art gebe, um weitere Erleichterungen, wie sie von der Senatsseite in Vorverhandlungen immer wieder verlangt wurden, nun als Erweiterung für die Dauerlösung zu vereinbaren. Dabei gehe es vor allem um die Reise für alle Westberliner mit Pkw und die freie Wahl der Reisemöglichkeiten innerhalb der 30 Besuchstage.
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Die Westberliner konnten sich nach dem Kontrollablauf in »Ostberlin«, in der DDR und auch auf den Transitstrecken frei und ungehindert bewegen. Verstärkte Polizeikräfte auf den Straßen haben sich nur dann eingeschaltet, wenn es galt, Schwierigkeiten zu beseitigen. Für Schikanen oder Behinderungen [der]/von Westberlinern gebe es bisher keine Beispiele. Vertreter des öffentlichen Lebens »Berlins« konnten sich ungehindert im Ostteil der Stadt und in der DDR bewegen, ohne Behinderung mit Menschen auf der Straße, in Gaststätten und dergleichen Gespräche führen, ohne einer gezielt eingesetzten kommunistischen Agitationsgruppe ausgesetzt zu sein. (Darüber berichteten in Einzelgesprächen Parlamentspräsident Sickert10 und der Westberliner Bundestagsabgeordnete Kurt Mattick).11
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Betrachte man die Osterregelung als Anfang, als ersten Schritt, um Erfahrungen zu sammeln für den Ausbau und die schrittweise Erweiterung der Regelung, so könne man sie als politisch brauchbar und technisch praktikabel bezeichnen. Ein weiterer Abbau der übermäßigen Bürokratie bis hin zur Gleichstellung der Westberliner mit den Bundesbürgern bei Einreisen in die DDR werde das anzustrebende nächste große Verhandlungsziel des Westberliner Senats sein.
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Die für die Mehrheit der Westberliner verflossenen zehn Jahre der Trennung von ihren Verwandten und Freunden wirkten sich nur in Einzelfällen belastend auf die Kontakte aus. Überwiegend wurde eine freudige, herzliche Aufnahme und Atmosphäre vorgefunden. Dabei kam der Gedanke der Gemeinsamkeit stärker zum Tragen als trennende Fakten und Probleme zwischen Ost und West. Stark verbreitet sei bei den Menschen im Osten das Gefühl der Selbstständigkeit und das Bedürfnis nach Anerkennung des Erreichten für den Einzelnen und das System. Aber auch die Freude darüber, »dass es in der BRD jetzt eine Regierung gebe, die zielstrebig bemüht sei, gemeinsam mit der DDR an der Überwindung der Spaltung und dem Abbau von Vorurteilen zu arbeiten, ist weit verbreitet und wird offen ausgesprochen.«
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Die für viele überraschende und in dem Ausmaß nicht erwartete freundliche Gesamtreaktion auf der östlichen Seite sei nur dadurch zu erklären, dass Erich Honecker12 kurzfristig »die Weichen von der Ideologie der Abgrenzung auf die Ideologie gut nachbarlicher Beziehungen zur BRD umgestellt habe«.
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Nach der Leipziger Rede13 von Erich Honecker sei eine kurzfristige Intensivschulung für alle eingesetzten Kräfte und für die SED-Mitglieder durchgeführt worden. Diese praktische Haltung der SED-Führung werde auf die weitere Politik innerhalb der DDR, aber auch in der BRD nicht ohne Wirkung bleiben. Das praktische Verhalten der Grenzkräfte wirke nicht künstlich gespielt. Von der seit Monaten eingehämmerten Abgrenzungsideologie sei nicht viel zu spüren. Es zeige sich bereits nach den ersten Tagen der Reiseregelung, dass »die Mauer durchlässiger gemacht wurde, so wie es Brandt in seiner Regierungspolitik versprochen hatte«. Das betreffe sowohl menschliche Kontakte und Erleichterungen als auch die Ideologie.
Neubauer teilte mit, dass die drei westlichen Alliierten die praktische Durchführung der Reiseregelung begrüßen. Im Gegensatz dazu habe er vor Ostern von Lorenz,14 Landesvorsitzender der Westberliner CDU, vernehmen müssen, dass die CDU von der Reaktion und der Zustimmung der Bevölkerung zu den Reiseformalitäten schockiert sei. Etwas unsicher habe Lorenz eingestanden, die SPD habe das Spiel um die Gunst der Westberliner Bevölkerung gewonnen.
Neubauer verwies darauf, dass es nach Ostern darauf ankommen werde, auf der Grundlage der Auswertung der praktischen Erfahrungen »mit dem Osten sachlich, hart und beweglich weiter zu verhandeln, um für die Bevölkerung noch überzeugendere Ergebnisse der Ostpolitik deutlich zu machen«.
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