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Grenzdurchbruch an der Grenzübergangsstelle Hirschberg

27. Dezember 1972
Information Nr. 1169/72 über einen gewaltsamen Grenzdurchbruch DDR – BRD an der Grenzübergangsstelle Hirschberg, Bezirk Gera

Am 26.12.1972, um 2.32 Uhr, erfolgte an der Grenzübergangsstelle Hirschberg durch einen Pkw, Typ »Wartburg 312« (Kombi), vermutlich besetzt mit einer männlichen Person, ein gewaltsamer Grenzdurchbruch nach der BRD.

Der Täter konnte bisher noch nicht ermittelt werden.

Die bisherigen Untersuchungen der zuständigen Organe des MfS ergaben:

Am 26.12.1972, gegen 2.30 Uhr, durchfuhr der Pkw »Wartburg« den Kontrollpunkt der Deutschen Volkspolizei an der Autobahnabfahrt Blintendorf in Richtung DDR – BRD.

Aufgrund der Veränderung des Standortes des Kontrollpunktes ist dieser sicherungsmäßig noch nicht vollständig ausgebaut, sodass gegenwärtig noch keine Sperrung der Fahrtrichtung durch einen Schlagbaum erfolgt, sondern nur eine Lichtampelanlage vorhanden ist, die zum Zeitpunkt des Durchfahrens durch den Pkw auf Rot geschaltet war.

Die zu diesem Zeitpunkt am VP-Kontrollpunkt diensthabenden Angehörigen der Deutschen Volkspolizei versuchten entsprechend den bestehenden Befehlen und Weisungen das unkontrollierte Durchfahren des VP-Kontrollpunktes sofort an den diensthabenden Offizier des Kommandanten der ca. 2 500 Meter entfernten Grenzübergangsstelle Hirschberg zu melden.

Diese Telefonverbindung kam erst nach ca. 45 bis 50 Sekunden zustande, da sich der zu dieser Zeit diensthabende Offizier des Kommandanten der Grenzübergangsstelle, der Angehörige der NVA, Oberstleutnant Lindner,1 aus bisher noch ungeklärten Gründen, erst zu dieser Zeit meldete. Obwohl vom VP-Kontrollpunkt Blintendorf zum Führungspunkt des diensthabenden Offiziers der Grenzübergangsstelle eine Klingelalarmverbindung besteht, wurde diese von den VP-Angehörigen nicht betätigt.

Der Pkw hatte sich in der Zwischenzeit mit einer Geschwindigkeit von ca. 50 km/h der Einfahrt zur Grenzübergangsstelle genähert, die durch Posten besetzt und durch einen ordnungsgemäß geschlossenen Schlagbaum gesichert war. (Postenbereich III) Kurz vor diesem Schlagbaum erhöhte der Pkw die Geschwindigkeit und durchbrach den Schlagbaum, der dabei nach oben geschleudert und abgerissen wurde.

Die eingesetzten Sicherungskräfte lösten sofort entsprechend den bestehenden Befehlen und Weisungen Alarm aus, was zur Schließung aller im Objekt befindlichen Schlagbäume, zur Rotschaltung aller Ampeln und zur Auslösung eines Sirenensignals führte.

Dem mit überhöhter Geschwindigkeit fahrenden Pkw war es möglich, in gerader Linie den Trakt der Lkw-Abfertigung der Grenzübergangsstelle und den sich zu dieser Zeit aufgrund der erfolgten Alarmauslösung gerade senkenden zweiten Schlagbaum innerhalb des Geländes der Grenzübergangsstelle zu passieren (insgesamt eine Entfernung von ca. 355 Metern).

Die an diesem zweiten Schlagbaum eingesetzten Sicherungskräfte (Postenbereich II) nahmen entsprechend den bisherigen Untersuchungsergebnissen die Alarmauslösung erst wahr, nachdem das Fahrzeug den sich senkenden Schlagbaum bereits unterfahren hatte.

Eine Feuerführung durch diesen Sicherungsposten war, bedingt durch die hohe Geschwindigkeit des Pkw und den begrenzten Schusssektor – der bereits passiert war – nicht mehr möglich. In der Folgezeit fuhr der Pkw mit weiterhin überhöhter Geschwindigkeit und in gerader Linie weitere 610 Meter und durchbrach den letzten ordnungsgemäß geschlossenen Schlagbaum, besetzt durch drei Angehörige der NVA, ausgerüstet mit Maschinenpistolen und einem leichten Maschinengewehr. (Postenbereich I)

Bisherigen Untersuchungen zufolge will der zu dieser Zeit diensthabende Offizier des Kommandanten der Grenzübergangsstelle, Oberstleutnant Lindner, aufgrund der Wahrnehmung der Alarmauslösung durch die Sicherungskräfte an der Einfahrt zur Grenzübergangsstelle und der Entgegennahme des Anrufes vom VP-Kontrollpunkt Blintendorf die Vorrichtung für das Auslösen der pioniertechnischen Rollsperre, die sich unmittelbar hinter dem letzten Schlagbaum am Ende des Geländes der Grenzübergangsstelle in Richtung BRD befindet, betätigt und dabei bemerkt haben, dass diese nicht funktioniert. Diese Sperranlage war am 23.12.1972 und unmittelbar nach dem Grenzdurchbruch am 26.12.1972 überprüft worden und funktionierte einwandfrei.

Oberstleutnant Lindner unterließ es, daraufhin – entgegen den in den Alarmdokumenten getroffenen Festlegungen – über die bestehende Wechselsprechanlage dem Postenführer im Postenbereich I den Befehl zu geben, die Sperre von diesem Posten aus mechanisch zu schließen und das Fahrzeug mit der Schusswaffe zu bekämpfen.

Infolgedessen konnte das Kfz ungehindert das Territorium der BRD – den Kontrollpunkt Rudolphstein – erreichen, wo es sofort außer Sicht gebracht wurde, sodass dort durchgeführte Handlungen nicht erkannt werden konnten.

Entsprechend den bisherigen Untersuchungsergebnissen muss geschlussfolgert werden, dass Oberstleutnant Lindner unentschlossen handelte und die Alarmanlage für die Rollsperre nicht exakt betätigt hat.

Die Untersuchungen des MfS zur umfassenden Aufklärung des gewaltsamen Grenzdurchbruches, der Ermittlung des Täters, der Ursachen und Motive sowie der begünstigenden Bedingungen, insbesondere der Klärung der bisher widersprüchlichen Angaben des diensthabenden Offiziers des Kommandanten der Grenzübergangsstelle werden fortgesetzt.

  1. Zum nächsten Dokument Einreisen von West-Bürgern in die DDR (22.12.–26.12.)

    27. Dezember 1972
    Information Nr. 1171/72 über die Einreisen von Bürgern Westberlins, der BRD und anderer nichtsozialistischer Staaten in die DDR in der Zeit vom 22. bis 26. Dezember 1972

  2. Zum vorherigen Dokument Erwartete Einreisen in die DDR (23.12.–26.12.)

    23. Dezember 1972
    Information Nr. 1168/72 über die zu erwartenden Reiseströme von Bürgern Westberlins, der BRD und anderer nichtsozialistischer Staaten in die DDR in der Zeit vom 23. bis 26. Dezember 1972