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Havarie im Qualitäts- und Edelstahlkombinat Hennigsdorf

26. Oktober 1972
Information Nr. 976/72 über eine Havarie im Qualitäts- und Edelstahlkombinat Hennigsdorf, Edelstahlwerk II, am 22. Oktober 1972

Am 22.10.1972, gegen 8.45 Uhr, ereignete sich im Qualitäts­ und Edelstahlkombinat Hennigsdorf, Edelstahlwerk II, an der Stranggussanlage 2 während des Abgießens von ca. 62 t Stahl ein Pfannendurchbruch.

Es liefen ca. 40 t Stahl in der Stranggussanlage aus, wodurch 17 Elektromotoren und eine Reihe von Steuer-, Mess- und Leistungskabeln zerstört wurden.

Nach den bisherigen Schätzungen entstand ein Sachschaden von etwa 1,5 Mio. Mark. In dieser Schadensumme sind 565 000 Valuta Mark1 enthalten, die für die Beschaffung der Ersatzteile von der westdeutschen Lieferfirma DEMAG2 benötigt werden. Größere volkswirtschaftliche Auswirkungen entstehen nicht, da sofort die in Reserve stehende Stranggussanlage I in Betrieb genommen werden konnte.

Die Wiederaufnahme der Produktion wird wesentlich von der Ersatzteillieferung der westdeutschen Firma DEMAG abhängig sein, deren Lieferfristen für Ersatzteile – je nach Art der Ersatzteile – zwei bis acht Monate betragen sollen.

(Bei der Stranggussanlage II handelt es sich um einen Import aus der BRD – Salzgitter AG Industriebau, DEMAG und AEG, die im März 1972 an das Qualitäts- und Edelstahlwerk Hennigsdorf übergeben wurde.)

Die bisherigen Untersuchungen durch eine Expertenkommission ergaben Folgendes:

Die havarierte Gießpfanne Nr. 8 war am 12. und 13.10.1972 mit feuerfestem Material ausgemauert worden. Die Überprüfung und Abnahme der Gießpfanne erfolgte durch den Obermeister der Abteilung Ofenbau im Qualitäts- und Edelstahlwerk Hennigsdorf, [Name]. Danach wurde die Gießpfanne am 14.10.1972 wieder in Betrieb genommen.

Am 18.10.1972 wurde nach zwölf abgegossenen Chargen der verschlissene Pfannenboden ausgebrochen und neu eingemauert. Seit dem 19.10.1972 wurden weitere Chargen (d. h. insgesamt 17 Chargen mit dieser Gießpfanne) abgegossen, ohne dass Anzeichen für Störungen zu erkennen waren.

Beim Abguss der 18. Charge am 22.10.1972 ereignete sich die Havarie, in dem die Seitenwand der Gießpfanne etwa 10 cm oberhalb des Bodens in Blickrichtung der Gießbühne durchbrach. Den mit dem Abgießvorgang beschäftigten Arbeitern gelang es nicht, den angebrachten Notschalter, der sich an einer ungünstigen Stelle befindet, zu betätigen.

(Über die Notschaltung wäre es möglich gewesen, die havarierende Gießpfanne abzuschwenken und die beträchtlichen Zerstörungen und Beschädigungen durch den ausfließenden Stahl (ca. 40 t) an elektrischen und mechanischen Einrichtungen an der Stranggussanlage II zu vermeiden.)

Die weiteren Untersuchungen ergaben, dass der Elektroofen dieser Anlage projektseitig nur für 50 t Stahl/Charge ausgelegt ist, er jedoch nach den bisherigen Feststellungen mit 60–67 t Stahl/Charge gefahren wurde. Entsprechend höheren Belastungen sind dann auch die Gießpfannen ausgesetzt. Zum Zeitpunkt der Havarie befanden sich in der Gießpfanne ca. 40 t Stahl.

Der Gießpfannendurchbruch wurde durch einige Umstände begünstigt, so u. a.

  • In der Regel wird zwischen der 14. und 17. Charge eine Neumauerung der Pfannen vorgenommen. In der havarierten Gießpfanne Nr. 8 handelte es sich um die 18. Charge. Die Entscheidung über die Dauer des Einsatzes einer Gießpfanne trifft der 1. Gießer bzw. Gießmeister. Es gibt keine eindeutige Abgrenzung ihrer Verantwortung über die Entscheidungspflicht zur Dauer des Gießpfanneneinsatzes.

  • Die havarierte Charge befand sich am 20.10.1972 bereits 50 Minuten länger in der Gusspfanne Nr. 8 als allgemein üblich, da bereits 15 Minuten nach Beginn des Abgusses in der Stranggussanlage eine Störung auftrat, die erst beseitigt wurde. Im Interesse des Produktionsausstoßes wurde die Weisung, dass in solchen Fällen der Guss sofort abzubrechen ist und der in der Pfanne befindliche Stahl auf Blöcke abzugießen ist, umgangen. Die lange Standzeit des flüssigen Stahls in der Gießpfanne rief ungünstige Strömungen hervor, die das bereits stärker geschwächte Material der Ausmauerung weiterhin stark beanspruchte.

  • Das feuerfeste Material im Qualitäts- und Edelstahlwerk Hennigsdorf wird nicht sachgemäß gelagert, ist zurzeit Witterungseinflüssen ausgesetzt. Damit sind Qualitätsminderungen nicht ausgeschlossen.

Durch die Expertenkommission wurde bei der Untersuchung der Ursachen der Havarie weiter festgestellt, dass die im Werk vorhandenen Vorschriften und Weisungen nicht den spezifischen Belangen des Elektrowerkes II Rechnung tragen. Die gegenwärtigen Betriebsvorschriften sind vielfach zu allgemein und beinhalten nicht die konkreten Aufgaben und Verantwortlichkeiten. Des Weiteren sind keine Havariepläne vorhanden.

Die Untersuchungen zur endgültigen Aufklärung der Ursachen und weiteren begünstigenden Bedingungen werden von der Expertenkommission fortgesetzt.

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    30. Oktober 1972
    Information Nr. 967/72 über ein Anwachsen negativer Reaktionen zur Gewährleistung des Handels und der Versorgung in bestimmten Konzentrationspunkten des visafreien Reiseverkehrs von Bürgern der VR Polen in die DDR

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    [ohne Datum]
    Information Nr. 964/72 über die Entwicklung der Antragstellung und den Stand der Bearbeitung der Anträge von DDR-Bürgern auf Ausreisen nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin in dringenden Familienangelegenheiten