Direkt zum Seiteninhalt springen

Lohndiskussionen bei der Deutschen Reichsbahn

24. Juli 1972
Information Nr. 698/72 über erneute Lohndiskussionen in Einrichtungen der Deutschen Reichsbahn in Westberlin und andere in diesem Zusammenhang zu beachtende negative Erscheinungen

Dem MfS liegen Hinweise vor, wonach auch nach den vom Politbüro des ZK der SED und dem Ministerrat der DDR beschlossenen1 und kurzfristig am 26.5.1972 im RAW Grunewald vor leitenden Wirtschafts-, Partei- und Gewerkschaftsfunktionären erläuterten sozialpolitischen Maßnahmen für Beschäftigte der Deutschen Reichsbahn2 und des Wasserstraßenhauptamtes der DDR mit Wohnsitz in Westberlin3 in bestimmten technischen Dienststellen (z. B. Reichsbahn-Ausbesserungswerken, Signal- und Fernmeldemeisterei , S-Bahn-Betriebswerk) Lohndiskussionen geführt werden.

Die beschlossenen sozialpolitischen Maßnahmen haben die Erwartungen der meisten Westberliner Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn und des Wasserstraßenhauptamtes übertroffen und im Prinzip eindeutig positive Reaktionen ausgelöst.

Neben einer echten Verbesserung des Lebensstandards der betreffenden Beschäftigten bestand ein Anliegen der sozialpolitischen Maßnahmen auch mit darin, die Löhne und Gehälter der im Betriebs- und Verkehrsdienst der Deutschen Reichsbahn Beschäftigten weiter an die der Mitarbeiter technischer Dienststellen anzugleichen.

(Bestimmte Unterschiede in der Entlohnung in den letzten Jahren entstanden, weil insbesondere im Bereich der technischen Rb-Dienststellen sich abzeichnende Personalschwierigkeiten dadurch zu lösen versucht wurden, indem ungerechtfertigt hohe Prämienzeitlöhne an Produktionsarbeiter gezahlt wurden.)

Nach Bekanntgabe der sozialpolitischen Maßnahmen gab es in den technischen Dienststellen zunächst ebenfalls nur positive Reaktionen.

Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Bekanntgabe in den einzelnen Dienststellen meist ohne vorherige gründliche Durcharbeitung der entsprechenden Materialien erfolgte und dadurch die Handhabung der neuen Aufrechnung der Prämienzeitlöhne nicht bis ins Detail erläutert wurde.

(Die Bekanntgabe der sozialpolitischen Maßnahmen erfolgte an einem Freitag unmittelbar vor Arbeitsschluss, wodurch weitere Einzelheiten der Erläuterungen verloren gingen.)

Nach Bekanntwerden des detaillierten Berechnungsmodus der Prämienzeitlöhne wurde ersichtlich, dass bei einem Teil der Beschäftigten der technischen Dienststellen eine Lohnminderung gegenüber dem bisher gezahlten Prämienzeitlohn bis zu 24,00 DM eintritt.

Von diesen Beschäftigten wird diese Lohnminderung dahingehend kommentiert, dass damit die angekündigte Lohnerhöhung um 120 DM brutto monatlich für sie nicht voll wirksam werde, da davon außer den Steuern, SVK-Beiträgen usw. auch noch die 24,00 DM Lohnminderung abgingen.

Gleichzeitig wäre dies eine Benachteiligung gegenüber den Beschäftigten des Betriebs- und Verkehrsdienstes, wo derartige Lohnminderungen nicht eintreten würden. Davon ausgehend sind im Verlaufe der letzten Wochen in den technischen Dienststellen der Deutschen Reichsbahn erneut Lohnforderungen gestellt worden, die im Wesentlichen zum Inhalt haben, dass die betroffenen Beschäftigten der technischen Dienststellen gleiche Lohnerhöhungen wie in den Betriebs- und Verkehrsdienststellen fordern.

Beschäftigte der Signal- und Fernmeldemeisterei Kolonnenstraße haben zur »Unterstützung ihrer Forderungen« eine Liste mit 62 Unterschriften an den Dienstvorsteher übergeben. In der als »dienstliche Eingabe« an das Leitungskollektiv deklarierten Unterschriftensammlung wird u. a. gefordert, dass die Verantwortlichen von Partei und Gewerkschaft sich den Fragen der unterzeichnenden Kollegen in einer öffentlichen Belegschaftsversammlung stellen und die ursprünglich verkündeten 120 DM Bruttolohnerhöhung nicht durch Abstriche am Prämienzeitlohn gemindert werden.

Einzelne Unstimmigkeiten gab bzw. gibt es auch im Zusammenhang mit den vorgesehenen Leiterzulagen. Obwohl durch die neuen Maßnahmen insgesamt eine Verbesserung eingetreten ist, gibt es einzelne Härtefälle, wonach Personen nicht in den Genuss der Leiterzulage kommen, obwohl sie in bestimmter Hinsicht Leitungsfunktionen ausüben.

(Durch individuelle Entscheidungen wurden bereits einige dieser Härtefälle bereinigt. Weitere dementsprechende Entscheidungen sind vorgesehen.)

Eine Reihe von Diskussionen hat die Bekanntgabe der sozialpolitischen Maßnahmen auch unter DDR-Bürgern, die als Eisenbahner oder Beschäftigte des Medizinischen Dienstes des Verkehrswesens in Westberlin arbeiten, hervorgerufen.

Am stärksten treten derartige Diskussionen unter den DDR-Beschäftigten der Poliklinik West4 auf, wobei zu beachten ist, dass hauptsächlich nur über die für die Westberliner Beschäftigten geltenden Urlaubs- und Arbeitszeitregelungen gesprochen wird.

Die DDR-Beschäftigten fühlen sich in gewissem Umfange gegenüber den Westberliner Beschäftigten benachteiligt, da sie, obwohl sie unter den gleichen Bedingungen arbeiten und häufig eine noch verantwortlichere Tätigkeit ausüben, nicht in den Genuss dieser Vergünstigungen hinsichtlich der Urlaubs- und Arbeitszeitregelung kommen.

Die im Bereich der Einrichtungen der Deutschen Reichsbahn in Westberlin bekanntgegebenen sozialpolitischen Maßnahmen wurden von den in Westberlin wirkenden anarchistischen Organisationen der »Schwarzen Zellen«5 zum Anlass genommen, um erneut gegen die Deutsche Reichsbahn und den FDGB zu hetzen und über die beschlossenen Maßnahmen weit hinausgehende provokatorische Forderungen zu erheben.

Am 17. bzw. 18.7.1972 wurden auf dem Gebiet der Deutschen Reichsbahn in Westberlin – Signal- und Fernmeldemeisterei Kolonnenstraße sowie Poliklinik West – neue Flugblätter der »Schwarzen Zelle« verbreitet (bisher wurden insgesamt 13 sichergestellt).

In diesen Flugblättern wird erklärt, die Westberliner Eisenbahner seien mit den sozialpolitischen Maßnahmen betrogen worden. Es wird aufgefordert, durch Unterschriftensammlungen und Protestversammlungen die Lohnerhöhungen »in ungekürztem Umfang« durchzusetzen.

Dem MfS ist bekannt, dass es sich bei den »Schwarzen Zellen« in Westberlin um anarchistische Gruppen, vornehmlich studentische Kreise, handelt, die meist in Wohnkommunen organisiert sind.

Die führenden Vertreter der »Schwarzen Zellen« kommen vorwiegend aus studentischen Kreisen. Ihre Anhänger rekrutieren sich vielfach aus straffälligen und rauschgiftsüchtigen Jugendlichen. Die Zahl der Anhänger ist einer stetigen Veränderung unterworfen.

Die »Schwarzen Zellen« stehen eindeutig auf antisowjetischen und antisozialistischen Positionen, wobei von ihnen ständig die Gefahr bestimmter Provokationen ausgeht.

Am 4. Mai 1972 trat erstmalig auf dem Gebiet der Deutschen Reichsbahn in Westberlin eine Gruppe von Personen, die sich als »Schwarze Zelle Reichsbahn« bezeichnet, durch Verbreitung selbstgefertigter Flugblätter in Erscheinung.

(Bei dieser »Schwarzen Zelle Reichsbahn« handelt es sich nach vorliegenden Informationen um Splittergruppen der »Schwarzen Zellen«.)

Inzwischen wurden durch die »Schwarze Zelle Reichsbahn« insgesamt fünf verschiedene Ausfertigungen von Flugblättern verbreitet.

Neben der Herausgabe von Flugblättern sind die Organisatoren der »Schwarze Zelle Reichsbahn« intensiv bemüht, mit Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn in Westberlin persönliche Kontakte aufzunehmen. So werden Eisenbahner direkt zu Treffen in Gaststätten oder an anderen Orten bestellt, nach der Reaktion auf die bisherigen Flugblattaktionen befragt und für eine Teilnahme an weiteren Aktionen geworben.

Dabei wird von den Organisatoren klar zum Ausdruck gebracht, dass man sich in der Kontaktaufnahme auf jüngere Beschäftigte der Deutschen Reichsbahn konzentrieren wolle. Bei Kontaktaufnahmen und Treffs werden konspirative Methoden angewandt. Die Kontaktgespräche mit Eisenbahnern werden nach bisher vorliegenden Hinweisen zur Sammlung von Berichten und Informationen über die Lage in möglichst vielen Dienststellen der Deutschen Reichsbahn in Westberlin ausgenutzt.

Darüberhinausgehend wurden folgende Pläne und Absichten dieses Personenkreises über zukünftige Aktionen bekannt:

  • Von Organisatoren dieser Gruppe wurde geäußert, dass sie die Absicht hätten, durch Zerstörung von Signalen unter Ausnutzung der Signalmeisterei in Westberlin – ganze Strecken der Deutschen Reichsbahn lahmzulegen und den S-Bahn-Verkehr in Westberlin zum Erliegen zu bringen.

  • Von der »Schwarzen Zelle Reichsbahn« soll eine am 25.8.1972 im RAW Grunewald geplante Jugendveranstaltung gestört werden.

  • Mit der Herausgabe der Hetzzeitung »Der Drache«, die im Juli 1972 erstmalig erschien, wird die Absicht verfolgt, bestimmte Verhältnisse, insbesondere »Missstände«, bei der Deutschen Reichsbahn in Westberlin »bloßzulegen«.6

(Vom MfS wurden die erforderlichen Maßnahmen eingeleitet, um die von den »Schwarzen Zellen«, insbesondere der »Schwarzen Zelle Reichsbahn« ausgehenden Pläne und Aktivitäten und die Organisatoren sowie Hintermänner aufzuklären.)

Im Zusammenhang mit den vorgenannten Plänen, Absichten und Aktionen ist auch von Bedeutung, ohne dass bereits die Urheberschaft der »Schwarzen Zellen« nachweisbar ist, dass allein im Monat Juli 1972 sechs anonyme Drohungen mit Anschlägen gegen Einrichtungen der Deutschen Reichsbahn in Westberlin bekannt wurden.

So erfolgte am 8.7.1972, 15.10 Uhr, in der Gepäckabfertigung des Bahnhofes Zoologischer Garten über den öffentlichen Postanschluss ein anonymer Anruf. Eine männliche Person teilte mit, dass um 16.04 Uhr auf dem Bahnhof Zoo vier Bomben detonieren werden, die sich bereits dort befänden. Die daraufhin von der Bahnpolizei durchgeführte intensive Such- und Kontrollaktion verlief ohne Erfolg.

Am 9.7.1972, 23.30 Uhr, meldete sich bei der Wache der Bahnpolizei auf dem S-Bahnhof Papestraße ein anonymer Anrufer. Er teilte mit, dass sich in dem Transitreisezug D 1394 eine Bombe befinde. Die von den Sicherheitsorganen der DDR durchgeführten umfangreichen Kontrollmaßnahmen verliefen ergebnislos. Infolge der zusätzlichen Kontrollmaßnahmen verzögerte sich der Betriebsaufenthalt des Zuges in Griebnitzsee um 57 Min.

Am 10.7.1972 erhielt der Dienstvorsteher des Bahnhofes Zoologischer Garten per Post einen Brief mit folgendem Inhalt:

»Da die vielfach ausgesprochene Bitte, den neuen Fahrplan so zu gestalten, dass die Züge in Westkreuz wie früher Anschluss nach Spandau und umgekehrt haben, bisher zu keiner Änderung geführt hat, erinnern wir heute letztmalig mit allem Nachdruck und aller Schärfe an unsere Forderung. Ab 1. August verstehen wir keinen Spaß mehr und werden ihre Arroganz bestrafen und handeln. Sie sollten alle Fahrgäste informieren, dass die Benutzung der S-Bahn ab 1.8. gefährlich werden könnte. Daher nochmals: Anschluss wie früher – sonst helfen wir nach.

1 + 12«

Die Überprüfungen ergaben, dass der S-Bahn-Fahrplan in Westberlin am 28. Mai 1972 nach umfangreichen Untersuchungen der Verkehrsströme neu gestaltet wurde. (Zuvor war er seit 1961 relativ konstant und nur unwesentlich geändert worden.) Nach Einführung des neuen Fahrplanes gab es sowohl Zustimmung als auch Ablehnung. Die Ablehnung bezog sich insbesondere auf verlängerte Übergangszeiten auf Umsteigebahnhöfen. Sie erfolgte insbesondere aus den Kreisen der Siemens- und Schering-Arbeiter, die dadurch verlängerte Fahrzeiten zur und von der Arbeitsstelle hatten. Es kam zu einer Reihe von Eingaben. Auch verschiedene Reichsbahn-Funktionäre in Westberlin meldeten ihre Bedenken an.

Andererseits gab es Reisende, die ihre Zustimmung gaben, »weil sie sich nun auf den Umsteigebahnhöfen nicht mehr so beeilen mussten.«

In Bearbeitung der Eingaben kam es bisher zu keinen Veränderungen des S-Bahn-Fahrplanes.

Am 20.7.1972 traf ein erneuter Brief des gleichen Schreibers beim Dienstvorsteher des Bahnhofes Zoologischer Garten mit folgendem Inhalt ein:

»Letzte Erinnerung! Rache für Fahrplan und Anschluss! Sollte ab 1. August trotz Warnung der Anschluss in Westkreuz (in Richtung Spandau – Kölln. Heide und umgekehrt) nicht klappen, dann hängt uns die ewige Warterei zum Halse raus. Warnung dann an alle Fahrgäste, wir meinen es ernst: es gibt Kleinholz mit Blut vermischt, wer dann noch S-Bahn fährt. Diese Nachricht erhält die Reichsbahn und die Wahrheit. Warnung! Rache für Fahrplan und Anschluss!«

Vom Präsidenten der Rbd Berlin, Genossen Grohs,7 wurde zwischenzeitlich veranlasst, den gesamten Westberliner S-Bahn-Fahrplan nochmals genau zu prüfen und die Ergebnisse bis zum 24.7.1972 vorzulegen. Danach soll entschieden werden, ob der Fahrplan bestehen bleibt oder nicht.

Vom MfS wird es als notwendig angesehen, bei der weiteren Klärung der unter den Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn in Westberlin geführten Diskussionen über die sozialpolitischen Maßnahmen und der darauf basierenden Forderungen die in der Information aufgezeigten feindlich-negativen Aktivitäten gegen die Deutsche Reichsbahn in Westberlin insgesamt zu beachten.

  1. Zum nächsten Dokument Rowdyhaftes Verhalten Jugendlicher gegenüber SED-Mitglied

    24. Juli 1972
    Information Nr. 701/72 über schwere rowdyhafte Verhaltensweisen einer Gruppe Jugendlicher gegenüber dem Abteilungsleiter für Sicherheitsfragen der Bezirksleitung der SED Cottbus am 21. Juli 1972

  2. Zum vorherigen Dokument Entwicklung des Reise- und Transitverkehrs (17.7.–23.7.)

    24. Juli 1972
    Information Nr. 695/72 über die Abfertigung und Abwicklung des Reise- und Besucherverkehrs Westberliner Bürger in die DDR und des Transitverkehrs von zivilen Personen und Gütern zwischen der BRD und Berlin (West) in der Zeit vom 17. bis 23. Juli 1972 – Dauerregelung –