Direkt zum Seiteninhalt springen

Lohndiskussionen bei der Deutschen Reichsbahn in Westberlin

8. Mai 1972
Information Nr. 432/72 über Lohndiskussionen und Lohnforderungen in Einrichtungen der Deutschen Reichsbahn in Westberlin

Dem MfS liegen Hinweise vor, wonach sich die in Einrichtungen der Deutschen Reichsbahn in Westberlin,1 insbesondere im Zusammenhang mit den Gewerkschaftswahlen,2 seit Januar 1972 vorhandenen Lohndiskussionen bzw. Lohnforderungen in der letzten Zeit weiter verstärkt haben und zu einer Reihe von Aktivitäten Westberliner Beschäftigter der DR führten.

Die Lohnforderungen werden offensichtlich hervorgerufen bzw. beeinflusst durch die Erhöhung der Löhne und Gehälter um 4 % sowie die Zahlung eines monatlichen sogenannten Teuerungszuschlages von ca. 30,00 DM für Mitarbeiter der Deutschen Bundesbahn.3

Besonders konzentriert waren Lohndiskussionen und -forderungen anlässlich der Vorbereitung und Durchführung der Gewerkschaftswahlen in den Dienststellenbereichen RAW Grunewald und Tempelhof, Bw Grunewald, Bf Tempelhof, Bf Grunewald, Sfm Kolonnenstraße, Bf Moabit und Bf Gesundbrunnen zu verzeichnen.

Der Inhalt der geführten Diskussionen lässt sich im Wesentlichen auf folgenden Kern reduzieren:

  • Es werde Zeit, dass die Deutsche Reichsbahn den ständig wachsenden Lebenshaltungskosten in Westberlin durch eine Lohnerhöhung entgegenkomme.

  • Die Deutsche Reichsbahn habe in der Vergangenheit ihre Mitarbeiter bisher nie im Stich gelassen und man erwarte zumindest eine Zulage von 100 DM.

  • Die Deutsche Reichsbahn reagiere erst, wenn die Mitarbeiter murren oder in andere Betriebe überwandern.

  • Der FDGB müsse auch einmal von sich aus in dieser Richtung aktiv werden und von sich aus über beabsichtigte Lohnerhöhungen informieren.

  • Der FDGB solle »öffentliche Lohnverhandlungen« führen, so wie das vom DGB praktiziert werde.

Bei den insbesondere seit Anfang 1972 bekannt gewordenen Lohndiskussionen wird ständig auf die steigenden Lebenshaltungskosten in Westberlin verwiesen. Bereits im Januar 1972 legten Angehörige der Deutschen Reichsbahn im gleichen Zusammenhang Schreiben über Mietpreiserhöhungen bei ihren Dienststellen vor.

In einer ganzen Anzahl dieser Diskussionen kommen Auffassungen zum Ausdruck, wonach erforderliche Lohnerhöhungen bei der Deutschen Reichsbahn »gar nicht auf Kosten der DDR erfolgen brauchten, denn in Anbetracht der ständigen Preiserhöhungen in Westberlin könne die Deutsche Reichsbahn gleichfalls Erhöhungen, z. B. der Wagenstandsgelder, der Gelder von Fremdfirmen oder der S-Bahntarife durchführen«.

Diskussionen löste bei den Eisenbahnern in Westberlin insbesondere auch ein Artikel in der »Fahrt frei«,4 Nr. 1/72,5 über die Verwendung des Prämienfonds aus. Bereits zum damaligen Zeitpunkt war zu verzeichnen, dass die Angehörigen der Deutschen Reichsbahn in Westberlin dahingehend Hoffnungen zum Ausdruck brachten, wonach die genannte Vereinbarung über die Verwendung des Prämienfonds auch volle Gültigkeit für die Deutsche Reichsbahn in Westberlin habe.

(In einer entsprechenden Fußnote zu diesem Artikel war angeführt, dass für Westberliner Eisenbahner eine Sondervereinbarung getroffen würde.)

Die Westberliner Eisenbahner erhielten auf der Grundlage einer Sondervereinbarung anlässlich des 1. Mai 1972 eine Sonderprämie von 50,00 DM.

Wie in vielen Diskussionen zum Ausdruck kam, waren damit die Vorstellungen der Westberliner Eisenbahner nicht erfüllt, weil die Eisenbahner der DDR anlässlich des 1. Mai 1972 eben auf der Grundlage der angeführten Vereinbarung im Durchschnitt 200 Mark der DDR erhalten hätten.

Neben diesen in der Regel offen geführten Lohndiskussionen wurden z. B. im RAW Tempelhof als Einzelexemplare selbst gefertigte Flugblätter folgenden Inhalts festgestellt:

»Auch wir fordern Lohnerhöhung, Arbeitsverkürzung, Urlaub – Fünf-Tagewoche« Arbeiter des RAW Tempelhof.

Im März 1972 wurden auf dem Güterbahnhof Ruhleben Ausschnitte aus der Zeitung der SEW »Die Wahrheit«6 auf eine Merktafel geklebt.

Diese Ausschnitte besagten:

Zur Durchsetzung höherer Löhne streikbereit! Das ist Arbeiterpolitik – wir machen mit!

Im Zusammenhang mit den Lohndiskussionen und Lohnforderungen ist seit Januar 1972 zu verzeichnen, dass sich in den verschiedensten Bereichen der Deutschen Reichsbahn in Westberlin Gewerkschaftsmitglieder weigerten, bis zum Zeitpunkt einer Lohnerhöhung ihre Gewerkschaftsbeiträge zu zahlen.

Im RAW Tempelhof haben zum Beispiel im März 1972 Gewerkschaftsmitglieder ihre Beiträge beim Meister hinterlegt mit der Aufforderung, keine Abrechnung bei der BGL durchzuführen. Damit soll erreicht werden, dass »die BGL ein Druckmittel in die Hand bekäme, um bei der übergeordneten Leitung vorstellig zu werden und die Lohnfrage zu forcieren«.

Weiterhin wurden im gesamten Bereich der Deutschen Reichsbahn in Westberlin offizielle Eingaben an die Bezirksgewerkschaftsleitung geschickt.

In einer in sachlicher Form verfassten Eingabe von Mitarbeitern des Bf Grunewald, die 52 Unterschriften trägt, wird der Erwartung Ausdruck verliehen, dass die Gewerkschaft, in die man volles Vertrauen setze, in Anbetracht der in Westberlin zu verzeichnenden Preissteigerungen »in der Frage der finanziellen Aufbesserung etwas Konkretes tun werde«.

In einem Schreiben ähnlichen Charakters wenden sich 34 Mitarbeiter des Bf Grunewald direkt an die RBD Berlin. (Beschäftigte des Bf Grunewald waren bereits in der Vergangenheit bei Lohndiskussionen sehr aktiv.)

Von verantwortlichen Mitarbeitern des Verkehrswesens der DDR wird eingeschätzt, dass bei Nichtdurchführung lohnerhöhender Maßnahmen mit einem stärkeren Ansteigen der Abwanderungen Westberliner Eisenbahner in die örtliche Industrie Westberlins, die in der Regel bessere Verdienstmöglichkeiten bietet, zu rechnen ist.

Im Zusammenhang mit den Lohndiskussionen ist auch das seit dem 4.5.1972 auf dem Gebiet der Deutschen Reichsbahn in Westberlin erfolgte Verteilen von Flugblättern zu sehen.

Die auf einer ganzen Anzahl von Dienststellen der DR in Westberlin öffentlich verteilten, in ihrer Grundtendenz negativen, Flugblätter haben hauptsächlich Lohnforderungen zum Inhalt, die in sehr massiver Form gestellt werden.

Die Flugblätter, deren Inhalt vielen Westberliner Eisenbahnern offensichtlich bekannt wurde und in der Regel nicht auf Ablehnung stößt, tragen als Unterschrift:

»Schwarze Zelle Reichsbahn«.7

(Die sich hinter diesem Pseudonym verbergende Gruppierung mit vorwiegend linksradikalem Einschlag trat bereits im April 1971 durch das Anbringen von Klebezetteln in S-Bahnzügen, auf denen zu Gewalttätigkeiten anlässlich des 1. Mai 1971 aufgefordert wurde, in Erscheinung.)

Die Initiatoren dieser »Schwarzen Zelle« sind dem MfS bekannt und stehen unter entsprechender Kontrolle.

  1. Zum nächsten Dokument Schusswaffengebrauch am Munitionslager Potsdam-Bornim

    9. Mai 1972
    Information Nr. 447/72 über den Gebrauch der Schusswaffe durch einen Posten des MSR 2 mit Todesfolge eines zivilen Bürgers am Munitionslager der 1. MSD in Potsdam-Bornim

  2. Zum vorherigen Dokument Stand der Beantragung von Einreisen (17.5.–24.5.) (2)

    8. Mai 1972
    2. Information Nr. 429/72 über die weitere Entwicklung der Antragstellung und den Stand der Bearbeitung der Anträge für die Einreise Westberliner Bürger in die DDR im Besuchszeitraum vom 17. bis 24. Mai 1972