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Probleme bei Investvorhabens Polyesterrohstoff (D1) Schwedt

4. Dezember 1972
Information Nr. 1094/72 über Probleme bei der Realisierung des Investvorhabens Polyesterrohstoff (D1) Schwedt

Das Investitionsvorhaben gehört zum Komplex Polyester/Polyurethan und bildet die in der DDR vorgesehene Rohstoffbasis für solche bedeutenden Vorhaben wie

  • Polyesterfaser in Premnitz,

  • Polyesterseide in Guben,

  • Polyestergranulat in Schwarza und

  • Magnetbandfabrik in Dessau.

Für die Inbetriebnahme der Anlage Polyesterrohstoff wurden jeweils folgende Termine festgelegt:

  • 1.1.1971 (Beschluss des Ministerrates Nr. 02–16/1/67 vom 9.11.1967)1

  • 1.6.1972

  • 1.6.1973 (Gemäß zweiten Nachtrags der Grundsatzentscheidung)

Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen kann aufgrund der gegenwärtigen Situation auch der letztgenannte Termin nicht eingehalten werden. Auf entsprechenden Antrag hin wurden deshalb dem Kombinat Schwedt vom Staatssekretär für Chemische Industrie, Genosse Kaiser,2 folgende neuen Termine zur Ausarbeitung der Produktionsplanung 1973 bestätigt:

  • Montageende Produktionsanlagen 28.2.1973;

  • Probebetriebsbeginn Produktionsanlage Terephthalsäure3 (PTA) 1.5.1973;

  • und Produktionsanlage Terephthalsäure reinst (PTA-reinst) 23.5.1973;

  • Erreichung der 50 %-Kapazität 1.9.1973;

  • Dauerbetrieb 1.1.1974.

Über die Ursachen dieser erneuten Terminverschiebung liegen dem MfS folgende Hinweise vor:

Die Leitungstätigkeit auf der Baustelle entspricht nach Auffassung vieler Fachleute nicht den Anforderungen. Die strategische Linie zwischen den DDR-Partnern, Investauftraggeber (IAG) Petrolchemisches Kombinat Schwedt, Generalauftragnehmer (GAN) Chemieanlagenbau und Montagekombinat Leipzig (CMK) sowie Ingenieurzentrale Böhlen, Hauptauftragnehmer (HAN) Ausrüstungen Industriemontagen (IMO) Merseburg und andere, war offensichtlich nicht von Anfang an klar konzipiert.

Dadurch wurde besonders in jüngster Zeit vor dem NSW-Partner vielfach kein einheitlicher Standpunkt vertreten. Das bedeutete letztendlich eine Schwächung der Position der DDR-Seite und behinderte eine konsequente Durchsetzung der DDR-Interessen. So wurde z. B. dem jetzigen Baustellenleiter der Vickers-Zimmer Ltd.,4 London, kein entsprechend profilierter DDR-Partner entgegengestellt.

Es wird weiter eingeschätzt, dass in der Haltung zum NSW-Partner bei einer Reihe von leitenden Kadern ideologische Probleme auftreten. Das kommt beispielsweise darin zum Ausdruck, dass dienstliche Verbindungen zum NSW-Partner zur Beschaffung von bestimmten Waren aus Westdeutschland ausgenutzt wurden.

Verantwortliche Leitungskader sorgten auch nicht für eine klare ideologische Abgrenzung des Baustellenpersonals der DDR zum NSW-Partner. So kam es zu unrühmlichen Verbrüderungsszenen unter Alkoholeinfluss und zum gemeinsamen Absingen von sogenannten deutschen Kameradschaftsliedern.

Einzelne leitende Kader zeigten eine unklare Einstellung zur Notwendigkeit der Durchsetzung der gesellschaftlichen Aufgaben, indem sie äußern, sich durch Übernahme gesellschaftlicher Aufgaben in ihrer fachlichen Arbeit behindert zu fühlen.

Hinweisen von Fachleuten zufolge wurde auf der Baustelle auch das Qualitätssicherungssystem nicht durchgesetzt.

Die DDR-Beistellungen waren teilweise mit Fertigungsfehlern behaftet. (zum Beispiel Kolonnen, Wärmetauscher, Behälter der Betriebe VEB Germania, Karl-Marx-Stadt5 und VEB Schwermaschinenbau »Karl-Liebknecht«, Magdeburg.)

Um diese Mängel zu beseitigen, waren auf der Baustelle erhebliche, zusätzliche Anstrengungen notwendig.

Auch DDR-Zulieferungen bei Elektromotoren zeigten Qualitätsmängel, wodurch die Verhandlungsposition der DDR-Seite zu Qualitätsfragen der durch die NSW-Partner ausgelieferten Aggregate geschwächt wurde. Außerdem erforderte die Nachbesserung teilweise recht erheblichen Arbeitsaufwand.

Auch bei Re-Exportbestellungen gab es Schwierigkeiten, wie beispielsweise die nicht termin- und qualitätsgerechte Lieferung der Messblenden durch den VEB Junkalor Dessau.

Der Großteil der Mängel bestand in der unsachgemäßen Behandlung von Bauteilen, beginnend bei der Kontrolle während der Anlieferung über die Lagerung bis zum teilweisen unsachgemäßen Einbau. Diese Umstände wurden durch das Nichtfunktionieren der zuständigen Technischen Kontrollorganisationen begünstigt.

Erschwerend zu diesen Faktoren kam der Umstand hinzu, dass die Lagerwirtschaft auf der Baustelle völlig desorganisiert war. Die Ursachen dafür liegen offensichtlich in

  • der ungenügenden Qualifikation der eingesetzten Lagerverwalter,

  • der unzureichenden Lagerkontrolle (Lagerbuchhaltung),

  • der unsachgemäßen Lagerung hochwertiger Ausrüstungsteile und in

  • der fehlenden Kontrollfunktion der GAN über die Lagerwirtschaft auf der Baustelle.

Der NSW-Partner konnte nachweisen, dass z. B. durch unsachgemäße Lagerung verrottete Flansche eingebaut wurden und wegen dadurch aufgetretener Undichten unter großem Aufwand und Zeitverlust ein Ausbau, die Reinigung und der Wiedereinbau erfolgen mussten.

Die Qualitätskontrolle auf der Baustelle ist ungenügend. Trotz nach Auffassung von Experten ausreichender Fixierung der Verantwortlichkeit kommt der HAN IMO Merseburg6 seinen Pflichten bei der Gütekontrolle nicht nach, und es werden Bestrebungen sichtbar, in diesem Zusammenhang Vertragsveränderungen durchzusetzen bzw. durch subjektive Auslegungen der vertraglichen Vereinbarungen die Verantwortung von sich auf den IAG, das PCK, abzuwälzen.

Dazu kommt, dass die Gütekontrolleure von IMO keine Funktionspläne haben, nicht zentral angeleitet werden, nicht in jedem Falle über die notwendige Qualifikation verfügen und auch nicht in entsprechende Qualifikationsmaßnahmen einbezogen sind.

Das DAMW, das durch eine Arbeitsvereinbarung mit dem PCK Schwedt die staatliche Gütekontrolle ausüben müsste, vertritt die Auffassung, dass seine Aufgaben hauptsächlich im Bereich der Forschung und Projektierung und weniger auf der Baustelle lägen.

Bei den von DDR-Betrieben zu erbringenden Montageleistungen, insbesondere bei Rohrleitungsmontagen, BMSR-Montagen, elektronischen Montagen und Isolierungen, sind nach bisherigen Feststellungen erhebliche Fehlkapazitäten in der Arbeitskräftebilanz zu verzeichnen.

Diese Situation hat sich in den letzten Monaten durch den Abzug sowohl von erfahrenen Leitungskadern des CMK als auch von ganzen Brigaden durch operative Entscheidungen des Ministeriums für Chemische Industrie nach anderen Schwerpunktvorhaben verschärft.

Hinzu kommt, dass sich durch vorgenannte Missstände Nacharbeiten und Mehraufwand erforderlich machen und zusätzliche Arbeitskräfte gebunden werden.

Einen erheblichen Teil der bisherigen Terminverzüge hat der NSW-Partner verschuldet und dafür die im Vertrag vorgesehenen Vertragsstrafen bezahlt.

Das bezieht sich sowohl auf die zu erbringenden Leistungen für den mechanischen Teil der Anlage als auch auf vertraglich zugesicherte Lieferungen.

(Der Wertumfang der Restlieferungen durch den NSW-Partner laut Vertrag beträgt noch 2 000 000 VM. Das verschuldet auch heute noch zusammen mit den geschilderten Missständen in der Lagerwirtschaft oft beträchtliche Terminverzüge in der Einzelmontage.)

In diesem Zusammenhang erscheint jedoch der Umstand beachtenswert, dass der NSW-Vertragspartner, Vickers/London, inzwischen seine Chemieanlagenbaufirmen an die Fa. Davy Ashmore7 verkauft hat. Die Fa. Vickers/London hat zwar in einer Brieferklärung an das MAW der DDR die Haftung für die Vertragserfüllung übernommen und die Fa. Vickers-Zimmer, Frankfurt (M) als Lohnauftragnehmer mit der Chefmontage auf der Baustelle Schwedt (O) beauftragt, da dieses Vertragsverhältnis die Fa Vickers/London jedoch finanziell stark belastet wird von vielen Fachleuten eingeschätzt, dass diese Firma alles tun wird, um das Vertragsverhältnis mit der DDR so schnell wie möglich zu beenden.

Aus diesen Gründen kämpft der NSW-Vertragspartner zurzeit offensichtlich um jeden finanziellen Betrag, den er jetzt noch zusätzlich als Vertragsstrafe oder Ersatzlieferung zahlen muss.

Zu einigen Fragen der Realität der neu beantragten Endtermine:

Einschätzungen von Fachleuten zufolge seien die eingangs genannten Termine, die eine Verschiebung der Termine des zweiten Nachtrags zur Grundsatzentscheidung darstellen, bereits wieder infrage gestellt, da ihre Realisierung ohne Zuführung von Arbeitskräften zu Lasten anderer Schwerpunktvorhaben der DDR-Chemie praktisch nicht möglich sei.

Nach Auffassung dieser Fachleute könne in Schwedt erst ab Juli/August 1973 spezifikationsgerechtes PTA8 erzeugt werden. Beachtenswert erscheint in diesem Zusammenhang folgende Einschätzung von Fachleuten:

Die Teilanlage Paraxylol9 (sogenannte Paraxylolstufe, Zwischenstufe zu PTA) wäre zu 97 % fertig. Eine Reparaturbrigade von zehn qualifizierten Schlossern könnte die Anlage in drei Wochen in Ordnung bringen.

(Nach einer Einschätzung der Fa. Amoco10 – Tochterfirma der Standard Oil11 –; die zusammen mit der Firma Scientific Design12 für das ordnungsgemäße Anfahren und die Leistungsfahrt der Anlage Polyesterrohstoff verantwortlich ist, bestünde für die DDR die Möglichkeit, mithilfe der Fa. Amoco beschränkte Quantitäten Paraxylol in Westeuropa zu verkaufen. Eine entsprechende Andeutung sei an den zuständigen Außenhandelsbetrieb der DDR ergangen.)

Zum weiteren Ablauf des Vorhabens D 1 scheint nach Auffassung von Fachleuten die Prüfung folgender Vorschläge notwendig:

Es gilt insbesondere die Leitungstätigkeit, beginnend beim Ministerium für Chemische Industrie, zu verbessern. Das Ministerium für Chemische Industrie sollte seine Kontrollfunktion konsequenter zur Beseitigung von Missständen wahrnehmen.

Die Verbesserung der Leitungstätigkeit muss mit der Zielsetzung erfolgen,

  • ein straffes Regime der Lagerwirtschaft einzuführen,

  • eine gemeinsame Strategie gegenüber dem NSW-Partner, bei gleichzeitiger konsequenter Abgrenzung der Verantwortungsgebiete, zu konzipieren und durchzusetzen,

  • das Qualitätssicherungssystem auf der Baustelle zu gewährleisten und

  • einen kompromisslosen Kampf gegen Schlamperei und Missstände auf der Baustelle zu führen.

Die Generaldirektoren der IAG und der GAN sollten sich anstelle des bisher geführten umfangreichen Schriftwechsels persönlich bei der Realisierung des Vorhabens D 1 stärker einschalten, und turnusgemäß gemeinsam Rechenschaft über den Stand der Realisierung des Vorhabens vor dem zuständigen Stellvertreter des Ministers für Chemische Industrie ablegen.

Die Abteilung Grundstoffindustrie des ZK hat am 27.10.1972 empfohlen, dass der IAG und der GAN prüfen sollen, ob die Anwesenheit der Mitarbeiter des NSW-Partners noch notwendig ist. Während der Prüfung sollte gleichzeitig sichergestellt werden, dass die Restlieferungen erfolgt sind, die Ersatzteile geliefert wurden, eventuell Vertragsstrafen und abzuleitende Garantien ausgehandelt und unterschrieben sind und das in den USA ausgebildete Anfahrkollektiv der DDR die Chefmontage übernehmen und verantworten kann.

Es sollte darauf geachtet werden, dass die jugoslawischen Gastarbeiter, die zurzeit den Kern der Kollektivs in der Montage bilden, am 31.12.1972 nicht ausgetauscht werden, da sie eingearbeitet sind. Werden sie ausgewechselt, so gelten neue Terminverzüge als sicher.

Das vorliegende Angebot der Fa. Amoco auf Sicherung des Bedarfs der DDR an PTA bis zum Anlaufen der eigenen Produktion sollte sehr gründlich auf Ernsthaftigkeit, Realisierbarkeit und eventuelle Hintergründe geprüft werden.

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    4. Dezember 1972
    Information Nr. 1095/72 über den Stand der Realisierung des Polyurethanvorhabens im VEB Synthesewerk Schwarzheide

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    [ohne Datum]
    Information Nr. 1101/72 über eine Festnahme von zwei Westberliner Bürgern an der Grenzübergangsstelle Drewitz