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Probleme in der Deutschen Akademie der Wissenschaften

20. Mai 1972
Information Nr. 493/72 über einige Probleme der Stellung, Tätigkeit und Entwicklung der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (DAW)

Auf der Grundlage dem MfS vorliegender Informationen wird nachfolgend zu einigen Problemen der Stellung, der Tätigkeit und der Entwicklung der Deutschen Akademie der Wissenschaften Stellung genommen, ohne damit Anspruch auf eine allseitige Darstellung der in der Information genannten Probleme und der dabei zu beachtenden Zusammenhänge erheben zu wollen.

Die Deutsche Akademie der Wissenschaften (DAW) verfügt über ein bedeutendes Potential der naturwissenschaftlich-technischen, biologisch-medizinischen und gesellschaftswissenschaftlichen Grundlagenforschung der DDR.

In 35 Forschungseinrichtungen sind ca. 13 000 Mitarbeiter – darunter ca. 3 500 Wissenschaftler – beschäftigt.

Auf der Grundlage des Staatsplanes Wissenschaft und Technik ist ein großer Teil der Forschungsarbeiten der DAW auf die Lösung volkswirtschaftlich bedeutsamer wissenschaftlich-technischer Probleme gerichtet.

Die Zusammenarbeit der DAW mit Betrieben und Kombinaten der Industrie hat sich insbesondere seit der Einführung der Auftragsbindung der Forschung und ihrer aufgabenbezogenen Finanzierung im Jahre 1969 erheblich verstärkt.

Durch vertragliche Bindungen ist auch die Zusammenarbeit mit Forschungseinrichtungen des Hochschulwesens enger geworden.

Die DAW ist Mitglied in ca. 30 internationalen wissenschaftlichen Organisationen und in der Dachorganisation aller nichtstaatlichen internationalen wissenschaftlichen Gesellschaften, dem »Internationalen Rat der wissenschaftlichen Unionen (ICSU)«.1

Auf der Grundlage der vorliegenden Informationen ist einzuschätzen, dass der Präsident der DAW, Prof. Klare,2 und die Mehrheit der Wissenschaftler und Funktionäre in der Leitung der DAW bestrebt sind, die auf dem VIII. Parteitag3 ausgesprochene Anerkennung4 für die DAW in erster Linie als Verpflichtung zu betrachten, durch entsprechende Forschungs- und Entwicklungsergebnisse und durch eine aktive Mitarbeit bei ihrer volkswirtschaftlichen Nutzung in wachsendem Maße zur Erfüllung der Hauptaufgabe des Fünfjahrplanes beizutragen.

Dabei treten jedoch, bezogen auf die Lösung der gestellten Aufgaben und den Entwicklungsprozess der DAW selbst, bestimmte Probleme und Unklarheiten auf. So wurde in der Leitung der DAW zwar Klarheit darüber geschaffen, dass die DAW für die Entwicklung der Grundlagenforschung in der DDR wachsende Verantwortung trägt, bei der Beratung und Lösung der daraus resultierenden Aufgaben zeigten sich jedoch unterschiedliche Meinungen und Bestrebungen, sodass bisher kein einheitlicher Standpunkt erzielt werden konnte, wie die DAW dieser wachsenden Verantwortung gerecht werden kann.

Von einem Teil der Wissenschaftler in der Leitung der DAW wird z. B. die Auffassung vertreten, die DAW müsste die Gesamtverantwortung und Leitung der Grundlagenforschung in der DDR übernehmen. Dazu seien disziplinär angelegte wissenschaftliche Räte mit Beschluss- und Kontrollrechten zu schaffen.

Von anderen Mitgliedern der Leitung der DAW – u. a. auch Prof. Klare – wird im Gegensatz dazu die Meinung vertreten, dass die DAW keine Verantwortung für die Leitung der gesamten Grundlagenforschung in der DDR übernehmen könne, da sie eine Forschungseinrichtung und kein Leitungs- und Planungsorgan sei. Für die Übernahme einer solchen Funktion würden die notwendigen Erfahrungen und Voraussetzungen fehlen. Die DAW müsse dazu mit den Pflichten und Rechten eines zentralen staatlichen Organs ausgestattet werden und eine der eigentlichen Aufgabenerfüllung nicht dienliche Doppelfunktion als Forschungseinrichtung und Leitungs- und Planungsorgan übernehmen.

Unter Berücksichtigung dieser unterschiedlichem Auffassungen wird von führenden Wissenschaftlern die Auffassung vertreten, dass die DAW zumindest in den Bereichen, wo ein entsprechendes Potential und entsprechende Leistungen vorhanden sind, eine höhere Verantwortung für die Entwicklung der Grundlagenforschung, auch im Sinne eines echten Beratungsorgans für die Staatsführung, übernehmen sollte, wobei die DAW eng mit dem Hochschulwesen sowie mit entsprechenden Industrieinstituten zusammenarbeiten müsste.

Diese Probleme werden zurzeit in einer Arbeitsgruppe unter Leitung des Präsidenten der DAW beraten, ohne dass bisher eine einheitliche Meinung erarbeitet werden konnte.

Im Zusammenhang mit diesen Grundfragen und den dazu vorhandenen unterschiedlichen Auffassungen spielt auch das Verhältnis der DAW zum Ministerium für Wissenschaft und Technik (MWT) eine wesentliche Rolle.

Die DAW untersteht dem Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, der die Verantwortung für die Probleme der DAW auf den Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates, Genosse Dr. Weiz,5 delegiert hat.

Die Planung der Forschungsaufgaben der DAW erfolgt in Abstimmung mit dem MWT. Die DAW verteidigt ihre Planvorschläge für die Forschung beim MWT; vom MWT aus erfolgt ihre Aufnahme in den Staatsplan Wissenschaft und Technik.

Ein wesentlicher Teil der Forschungsaufgaben der DAW wird durch das MWT aus dem Staatshaushalt finanziert. Die Verteidigung der Forschungsergebnisse erfolgt ebenfalls gegenüber dem MWT. Verantwortliche Wissenschaftler der DAW schätzen ein, dass sich diese Art der Zusammenarbeit mit dem MWT bewährt hat, wobei die Leitung der DAW bereit und bestrebt sei, die Zusammenarbeit mit dem MWT noch enger zu gestalten.

Viele Diskussionen gibt es zurzeit unter Wissenschaftlern über die Rolle und Stellung des Forschungsrates der DDR. Der Forschungsrat der DDR, als zentrales beratendes Organ des Ministerrates der DDR für wissenschaftlich-technische Fragen, ist seit längerer Zeit nicht zusammengetreten.

Die 14 Fachgruppen und die ihnen unterstehenden 77 Zentralen Arbeitskreise (ZAK) des Forschungsrates leisten nach übereinstimmenden Hinweisen eine sehr unterschiedliche Arbeit. Nach Meinung vieler Wissenschaftler ist die unterschiedliche Aktivität der Fachgruppen und ZAK im Wesentlichen von der Initiative des jeweiligen Vorsitzenden abhängig, da es für die Arbeit dieser Gremien keine einheitliche inhaltliche Orientierung durch den Forschungsrat bzw. dessen Präsidium gebe.

Aufgrund der geringen Wirksamkeit des Forschungsrates und seiner Gremien sehen leitende Wissenschaftler der DAW ihre Mitgliedschaft bzw. Mitwirkung in diesen als »nicht sinnvolle Doppelarbeit« an.

Durch die Mehrzahl der Mitglieder der DAW sowie durch den derzeitigen Vorsitzenden des Forschungsrates, Prof. Steenbeck6 wird nach den vorliegenden Informationen eingeschätzt, dass der Forschungsrat »seit längerer Zeit ohne jede Wirksamkeit und in seiner jetzigen Profilierung nicht mehr geeignet sei, den Anforderungen zur Lösung der vom VIII. Parteitag der SED gestellten Aufgaben zu entsprechen«.

Von wesentlicher Bedeutung für die weitere Entwicklung der DAW ist offenkundig auch die Lösung einiger Probleme in der Zusammenarbeit der DAW mit der Akademie der Wissenschaften der UdSSR.

Die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden wissenschaftlichen Einrichtungen erfolgt auf der Grundlage eines am 16.3.1971 in Moskau unterzeichneten Protokolls über die Hauptrichtungen der wissenschaftlichen Zusammenarbeit bis 1975.7

Auf der Grundlage dieses Protokolls erfolgt jährlich der Abschluss von Abkommen, in denen die konkreten Aufgaben festgelegt werden. (Gegenwärtig werden in 13 Hauptrichtungen 59 naturwissenschaftliche und 25 gesellschaftswissenschaftliche Forschungsthemen auf der Basis von Arbeitsplänen gemeinsam bearbeitet.)

An der Realisierung dieser Forschungsthemen sind zurzeit 22 Forschungseinrichtungen der DAW, 49 Einrichtungen aus dem Bereich des Hochschulwesens und der Industrie der DDR sowie 78 Einrichtungen der Akademie der Wissenschaften der UdSSR beteiligt, wobei die Koordinierung innerhalb der DDR bei der DAW liegt.

Das Protokoll vom 16.3.19718 sieht darüber hinaus einen devisenlosen Wissenschaftleraustausch für kurz- und langfristige Aufenthalte vor, der überwiegend der Realisierung der festgelegten Forschungsthemen dient und sich zunehmend entwickelt.

Vor multilateralen Beratungen von Vertretern der Akademien sozialistischer Länder erfolgen entsprechende gegenseitige Konsultationen, um entsprechende Voraussetzungen für ein gemeinsames Auftreten zu schaffen.

Nach Meinung führender Wissenschaftler der DAW entsprechen jedoch – ungeachtet der positiven Entwicklungstendenz – die bisher erzielten Fortschritte bei der Entwicklung der Zusammenarbeit der DAW mit der Akademie der Wissenschaften der UdSSR noch nicht den durchaus vorhandenen Möglichkeiten. Das betrifft besonders die Zusammenarbeit in der Grundlagenforschung.

So sind mit Stand vom März 1972 erst bei ca. einem Drittel der gemeinsam zu bearbeitenden 84 Themen mit annähernd 200 Unterthemen die Arbeitspläne beiderseitig bestätigt. Bei der Mehrzahl der Themen ist die Phase der Ausarbeitung und Abstimmung der Arbeitspläne noch nicht abgeschlossen. Die Verwirklichung der getroffenen Vereinbarungen wird nach Meinung vieler Wissenschaftler durch

  • die große Anzahl der vereinbarten Themen und deren breite Zersplitterung in Unterthemen,

  • das Fehlen konkreter Kenntnisse über die potentiellen Partner in der UdSSR und

  • den Stand der jeweiligen Forschungen in der UdSSR

gehemmt.

Bestimmte Schwierigkeiten bei der Entwicklung der Zusammenarbeit entstehen auch dadurch, dass von den Vertragspartnern der DAW-Institute in der Industrie der DDR wiederholt Verträge gekündigt oder eigenmächtig inhaltlich abgeändert werden. Die angebahnte Zusammenarbeit mit sowjetischen Partnern kam durch eine solche Praxis in einzelnen Fällen nach kurzer Zeit wieder zum Erliegen.

Diese Diskontinuität in der Entwicklung einer engen, systematischen Zusammenarbeit führte bei einigen Wissenschaftlern in [den] DAW-Institute[n] teilweise zu Resignation und Pessimismus. Von ihnen wird darauf verwiesen, dass nur unter den Bedingungen einer kontinuierlichen Arbeit, wie sie an den sowjetischen Forschungseinrichtungen üblich sei, hohe Ergebnisse zu erzielen wären.

Bei der Verwirklichung der Aufgabe, die gesamte Zusammenarbeit zwischen der DDR und der UdSSR in der Grundlagenforschung DDR-seitig zu koordinieren, gibt es erste Anfänge. Die DAW baut in ihren Forschungsbereichen gegenwärtig Leitstellen für die Koordinierung auf den verschiedenen Wissenschaftsgebieten auf.

Nach Auffassung verschiedener Wissenschaftler gebe es erkennbare Fortschritte auf dem Gebiet der Werkstoffforschung, während im Forschungszentrum Molekularbiologie und im Zentralinstitut der DAW für Mathematik und Mechanik noch große Rückstände zu verzeichnen seien.

Ursachen dafür seien neben mangelnden leitungs- und kadermäßigen Voraussetzungen auch noch unzureichendes Verantwortungsbewusstsein einzelner Leiter.

In der Entwicklung der multilateralen Zusammenarbeit der Akademien der sozialistischen Länder sind nach Meinung leitender Wissenschaftler durch den Abschluss des mehrseitigen Abkommens der Akademien über die Zusammenarbeit in der Grundlagenforschung im Dezember 19719 ebenfalls bestimmte Fortschritte erzielt worden. Die DAW sei bemüht, insbesondere im Zusammenwirken mit der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, einen aktiven Beitrag zur mehrseitigen Zusammenarbeit der sozialistischen Länder zu leisten. Die Effektivität dieser mehrseitigen Zusammenarbeit wäre jedoch gegenwärtig im Vergleich zur bilateralen und gemessen an den Anforderungen, die insbesondere das RGW-Komplexprogramm stellt, noch zu gering. Eine echte mehrseitige arbeitsteilige Kooperation sei erst in Ansätzen vorhanden.

Zu weiteren im Zusammenhang mit der Tätigkeit der DAW beachtenswerten Problemen:

Nach Auffassung vieler Mitarbeiter der DAW gelangen immer mehr Wissenschaftler der verschiedensten Einrichtungen der DAW zu der Erkenntnis, dass es notwendig ist, die Forschungsarbeit bewusst auf den gesellschaftlichen Nutzeffekt – insbesondere auf konkrete ökonomische Ergebnisse – auszurichten.

In der Zusammenarbeit zwischen DAW-Instituten und Produktionsbetrieben bei der Verwirklichung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts durch Überführung neuer Forschungs- und Entwicklungsergebnisse in die Produktion sind bereits eine Reihe guter Ergebnisse zu verzeichnen. Die DAW biete gegenwärtig 84 wissenschaftliche Ergebnisse aus ihren naturwissenschaftlich-technischen Forschungsbereichen zur Überleitung in die Produktion an.

Bei der Überleitung der Ergebnisse der Forschung der DAW in die Produktion treten jedoch noch erhebliche Schwierigkeiten auf.

Nach Meinung leitender Wissenschaftler würden diese vor allem durch die Leitungen solcher Industriebetriebe verursacht werden,

  • die zum Teil über ungenügende Kenntnisse des technischen Weltstandes und der Tendenzen der wissenschaftlich-technischen Entwicklung verfügen und

  • die wenig Risikobereitschaft zur Durchsetzung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zeigen.

Teilweise trete bei Industriebetrieben auch eine solche Tendenz auf, Verträge mit den Instituten der DAW nur für einen kurzen Zeitraum und für solche Aufgaben abzuschließen, die sofort praxiswirksam werden sollen.

Bei der Gestaltung von Verträgen zwischen dem Zentralinstitut für Kernforschung (ZfK) Rossendorf der DAW und dem Kombinat Kraftwerksanlagenbau traten beispielsweise Differenzen dadurch auf, dass das Kombinat die Lösung der unmittelbar vor ihm stehenden Aufgaben in den Mittelpunkt der Verträge stellen wollte. Damit würde aber nahezu die gesamte technologische Kapazität des DAW-Institutes für die Lösung von Tagesaufgaben beansprucht.

Durch verschiedene Industriebetriebe wurde für 1972 einseitig keine Verlängerung von mit der DAW abgeschlossenen Forschungsverträgen vorgenommen oder der Verlängerung erst nach langwierigen Verhandlungen zugestimmt.

Selbst auf Vertragsforschung beruhende Ergebnisse der Forschung und Entwicklung in Instituten der DAW, die zur Überführung in die Produktion mit einem ökonomischen Effekt geeignet sind, werden zum Teil durch Industriebetriebe der DDR nicht in das Produktionsprogramm aufgenommen.

Eine Überführung in die Produktion wird mit den verschiedensten Begründungen abgelehnt, auf spätere Zeitpunkte verschoben oder mit solchen zusätzlichen Forderungen an die DAW verknüpft, die deren Möglichkeiten übersteigen und auf die Überleitung zum Scheitern bringen.

Zum Beispiel wurden durch DAW-Institute im Rahmen der Vertragsforschung für den VEB Fotochemisches Kombinat (FCK) Wolfen Metalldünnschichtbänder für die Datenspeicherung entwickelt. Nachdem gute Entwicklungsergebnisse vorlagen, machte das FCK Wolfen die Entscheidung über die Produktionsaufnahme davon abhängig, dass die DAW die Bänder selbst in einer Technikumsanlage erprobt, wofür bei der DAW keine Voraussetzungen gegeben sind.

Die teilweise fehlende bzw. verzögerte volkswirtschaftliche Verwertung von Forschungsergebnissen wirkt sich nach Aussagen vieler Wissenschaftler bis zu einem gewissen Grade hemmend auf die Aktivität und Produktivität von Forschungskollektiven in der DAW aus.

Es wird eingeschätzt, dass die Mehrheit der Wissenschaftler sich durchaus dafür einsetzt, dass ihre Erkenntnisse in volkswirtschaftlichen Nutzen umgesetzt werden: Daran seien sie auch materiell interessiert.

Ungehalten zeigen sich diese Wissenschaftler aber darüber, dass »trotz der Übereinstimmung ihres Bestrebens mit der Orientierung von Partei und Regierung« bei der Überleitung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis nach wie vor erhebliche Hemmnisse auftreten.

Durch das leitende medizinische Personal der Robert-Rössle-Klinik des Zentralinstituts für Geschwulstforschung (Direktor Prof. Gummel)10 und der Klinik des Zentralinstituts für Herz-Kreislauf-Forschung (Direktor Prof. Baumann)11 wird immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die Betreuung der Patienten durch den Mangel an verschiedenen Medikamenten beeinträchtigt wird.

(In den Jahren 1970/71 fehlten zur optimalen Versorgung der Bevölkerung rund 120 Arzneimittel, die in der DDR weder produziert noch importiert wurden.)

Mediziner beider Kliniken vertreten die Auffassung, dass es sich um eine ernste Erscheinung mit erheblichen Auswirkungen für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung und damit auch für die Volkswirtschaft handele.

Als eine entscheidende Ursache des Medikamentenmangels wird die offensichtlich nicht genügende Entwicklung der pharmazeutischen Industrie der DDR bezeichnet. (Der Anteil der DDR an der Weltproduktion von Arzneimitteln liegt niedriger als der vergleichbaren Länder wie VR Ungarn, Schweiz und Belgien.)

Rückstände gibt es insbesondere in der Arzneimittelforschung der DDR. Nur 7 % der in der pharmazeutischen Industrie der DDR Beschäftigten sind im Bereich der Forschung tätig, während dieser Anteil in führenden Ländern mindestens 10 bis 15 % beträgt. Für die Arzneimittelforschung gibt die pharmazeutische Industrie der DDR 3,3 % des Wertes ihrer Warenproduktion aus, in der VR Ungarn waren es 1967 bereits 6 %.

Bei leitenden Wissenschaftlern des Forschungszentrums der DAW Berlin-Buch ist die Bereitschaft vorhanden, die Kapazitäten der Grundlagenforschung zur Unterstützung der pharmazeutischen Industrie einzusetzen und besonders in Auswertung sowjetischer Erfahrungen die Überführung vorliegender Erkenntnisse und Ergebnisse in die Arzneimittelproduktion aktiv zu fördern. Diese Wissenschaftler sind weiter bereit, bei entsprechender Unterstützung durch die pharmazeutische Industrie in Forschungseinrichtungen und mit Kräften der DAW ein pharmazeutisches Technikum mit Kleinversuchsanlagen zur Überführung pharmazeutischer Präparate in die industrielle Produktion einzurichten.

Neben diesen aus der Zusammenarbeit mit den Betrieben und anderen Einrichtungen resultierenden Schwierigkeiten wirken auch innerhalb der DAW selbst verschiedene Faktoren, die den Effekt der Forschungsarbeiten beeinträchtigen.

  • Trotz der Fortschritte bei der Konzentration des Potentials der DAW ist ein nicht unwesentlicher Teil der personellen und materiellen Kapazitäten noch nicht für Schwerpunktvorhaben eingesetzt. So sind die durch die DAW ausgewiesenen Ergebnisse oftmals nur das Resultat konzentrierter Arbeit von in der Regel relativ kleinen wissenschaftlichen Kollektiven in Instituten oder Teilen von Instituten.

  • Bei einem Teil der Wissenschaftler gibt es noch keine klare Orientierung auf den gesellschaftlichen und vor allem volkswirtschaftlichen Nutzen ihrer Forschungen.

  • So orientiert der Generalsekretär der DAW, Prof. Lauter,12 im Forschungsbereich kosmische Physik der DAW, auf dessen Leitung er maßgeblichen Einfluss ausübt, vorrangig auf geophysikalisch-theoretische Forschungen. Er steht damit im Gegensatz zu Wünschen der sowjetischen Interkosmospartner13 und zur Auffassung junger progressiver Wissenschaftler in der DAW, die als Schwerpunkt Geräteentwicklungen für aktive Experimente im Weltraum mit gleichzeitiger volkswirtschaftlicher Nutzbarkeit sehen.

  • Die Konzentration des Forschungspotentials auf Schwerpunkte findet nicht immer die Unterstützung von Wissenschaftlern in Leitungsfunktionen.

Prof. Böhme,14 Direktor des Instituts für Kulturpflanzenforschung der DAW, und Prof. Schreiber,15 Direktor des Instituts für Biochemie der Pflanzen, sind bestrebt, der Einbeziehung ihrer Institute in das Schwerpunktvorhaben der DAW »Molekulare Grundlagen der Entwicklungs-, Vererbungs- und Steuerungsprozesse (MOGEVUS)« entgegenzuwirken.

  • Die Gestaltung einer solchen Wissenschaftsorganisation innerhalb der DAW, die maximalen Voraussetzungen für hohe wissenschaftliche Produktivität schafft, zog bzw. zieht sich in verschiedenen Fällen über einen Zeitraum von mehreren Jahren hin. So befindet sich der Forschungsbereich Kernwissenschaften im vierten Jahr der Akademiereform immer noch »in Bildung«.

  • Die Bildung von zwei Zentralinstituten des Forschungsbereiches Chemie der DAW in Berlin-Adlershof hat von 1968 bis 1971 gedauert.

Die in diesem Zusammenhang erfolgte fortwährende Neuerarbeitung von Konzeptionen für diese Zentralinstitute sowie die mehrjährige provisorische Besetzung von Leitungsfunktionen hat nach Meinung in diesen Einrichtungen tätiger Wissenschaftler zu einer gewissen »Unsicherheit« geführt, die sich letztlich hemmend auf ihre wissenschaftliche Arbeit ausgewirkt habe. Es sei deshalb nicht zufällig, dass gerade in diesen beiden Instituten stärker als im Gesamtbereich der DAW unter Mitarbeitern Erscheinungen mangelnder Aktivität und Initiative zu verzeichnen seien. In diesem Zusammenhang sind auch Zweifel an der Richtigkeit der Akademiereform überhaupt geäußert worden.

Eine Wende zum positiven zeichne sich seit dem Einsatz von Prof. Keil16 ab.

(Prof. Keil leitet seit 1971 den Forschungsbereich Chemie der DAW.)

Die wiederholten Umstrukturierungen des Bereiches Planung und Ökonomie sowie der Hauptabteilung internationale Beziehungen innerhalb der Leitung der DAW haben die Wirksamkeit dieser Struktureinheit beeinträchtigt.

Gegenwärtig ist der Prozess der strukturellen Veränderungen in der DAW im Wesentlichen abgeschlossen. Durch den Präsidenten, Prof. Klare, erfolgt eine klare Orientierung auf die weitere inhaltliche Entwicklung der Arbeit im Rahmen der jetzt gegebenen Strukturen ohne erneute Veränderungen.

Zahlreiche Wissenschaftler in der DAW registrieren jedoch kritisch, dass im Zuge der Akademiereform der Anteil der Verwaltungsmitarbeiter auf den verschiedenen Leitungsebenen wesentlich gestiegen ist, ohne dass in jedem Falle dadurch bessere Voraussetzungen für die wissenschaftliche Arbeit entstanden seien.

Von verschiedenen Wissenschaftlern, insbesondere aus dem Bereich Biologie und Medizin, wie Prof. Repke,17 Prof. Graffi18 und Prof. Bielka,19 gibt es Klagen über eine erhebliche Belastung mit administrativen Aufgaben, wodurch es ihnen nur in eingeschränktem Maße möglich sei, produktiv wissenschaftlich tätig zu sein. Sie sehen darin auch eine der Ursachen, warum viele jüngere Wissenschaftler keine Leitungsfunktionen übernehmen wollen.

Eine Reihe von Problemen in der DAW sind offensichtlich auch auf die gegenwärtige Zusammensetzung der Leitung der DAW sowie die kadermäßige Besetzung verschiedener Forschungsbereichsleitungen zurückzuführen.

Nach übereinstimmender Einschätzung vieler leitender Wissenschaftler wird der Präsident der DAW, Prof. Klare, zunehmend als staatlicher Leiter der DAW wirksam. Er ist bemüht, die Leitung der DAW zu stabilisieren und das einheitliche Wirken, der Mitglieder des Präsidiums der DAW zu erreichen.

Die Zusammenarbeit zwischen Prof. Klare und der Kreisleitung der SED in der DAW habe sich positiv entwickelt. Prof. Klare ist sichtlich bestrebt, sich in der DAW auf die Parteiorganisation und andere progressive Kräfte zu stützen.

Wie aus Meinungen vieler Mitarbeiter der DAW hervorgeht, erfahre Prof. Klare in seinem Bemühen um die Profilierung der DAW im Sinne der Aufgabenstellung des VIII. Parteitages eine zu geringe Unterstützung durch die Mitglieder des Präsidiums.

Größere Schwierigkeiten würden ihm durch das Wirken seines 1. Stellvertreters, des Generalsekretärs der DAW, Prof. Dr. Lauter, erwachsen. Aus diesem Grunde habe Prof. Klare bei allen Diskussionen um die Neubesetzung der Leitung der DAW ab Juni 1972 darauf bestanden, dass Prof. Lauter nicht erneut als Generalsekretär der DAW kandidiere.

Prof. Hofmann20 habe die in ihn gesetzten Erwartungen als Stellvertreter der Präsidenten für Forschung bisher nicht voll erfüllt. Er wurde mit wenig Erfahrungen in der Leitungstätigkeit in diese Funktion eingesetzt und war ihr lange Zeit offensichtlich noch nicht gewachsen. In der letzten Zeit werde eine Verbesserung seiner Tätigkeit sichtbar.

Prof. Hartke21 als Vizepräsident der DAW für den Bereich Plenum und Klassen sei sehr um einen Beitrag zur Leitung der DAW bemüht, seine Wirksamkeit sei jedoch auf einen engen Bereich begrenzt. Erschwert werde seine Tätigkeit durch teilweise auftretende Überschneidungen mit dem Aufgabenbereich des Vizepräsidenten Prof. Schwabe.22

Prof. Schwabe wurde 1971 im Zusammenhang mit dem Beschluss des Präsidiums des Ministerrates, wonach die DAW die Planung für die sächsische Akademie der Wissenschaften mit wahrzunehmen hat, um durch die DAW auf die Sächsische Akademie positiven Einfluss zu nehmen, Vizepräsident der DAW.23

Prof. Schwabe habe nach Übernahme der Funktion in der DAW erklärt, er »gedenke keinen Schritt zu unternehmen, der die Selbstständigkeit der Sächsischen Akademie aufhebe«.

Er ist offensichtlich bemüht, als Vizepräsident in zunehmendem Maße in der Akademie wirksam zu werden und gleichzeitig Prof. Klare keinen Einblick in die Angelegenheiten der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu gewähren.

Verschiedene Leitungskader der DAW schätzen ein, dass es bisher nicht in genügendem Maße gelungen sei, die angestrebte größere Einflussnahme auf die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu erreichen. Die Sächsische Akademie verfolge nach wie vor die Linie einer »gesamtdeutschen Wissenschaft«.

(Zur 125-Jahr-Feier der Sächsischen Akademie der Wissenschaften24 im November 1971 in Leipzig wurden z. B. alle westdeutschen Akademiepräsidenten eingeladen.)

Die kadermäßige Situation in der bisherigen Leitung der DAW hat dazu geführt, dass sich Prof. Klare stark auf sein wissenschaftliches Sekretariat stützt, durch das eine aktive Arbeit geleistet wird.

Im Zusammenhang damit wurden jedoch in der Vergangenheit auch bestimmte Stimmen laut, dass unter der Präsidentschaft von Prof. Klare »der Apparat die DAW regiere«.

Vorliegenden Meinungen verschiedener Wissenschaftler zufolge werde die Situation in der Leitung der DAW durch die zum Teil ungünstige Besetzung der Funktionen der sieben Forschungsbereichsleiter beeinflusst.

Während von den Professoren Keil (Chemie) und Lanius25 (Physik/Mathematik) eine positive Wirkung ausgehe, würden die Professoren Treder26 (Kosmische Physik) und Mühlenpfordt27 (Kernwissenschaften) aus gesundheitlichen Gründen wenig wirksam.

Prof. Scheler28 (Biologie/Medizin) sei erst ca. eineinhalb Jahre in dieser Funktion, habe eine gewisse Unsicherheit noch nicht überwunden und sei demzufolge auch in bestimmten Leitungsfragen noch unentschlossen.

Prof. Balarin29 (Werkstoffwissenschaften) bemühe sich um eine gute Leitungstätigkeit, erziele dabei jedoch noch nicht genügend Nutzeffekt.

Prof. Kalweit30 (Gesellschaftswissenschaften) übt diese Funktion erst seit Oktober 1971 aus, sei jedoch schnell wirksam geworden. Seine Leitungstätigkeit finde allgemein Anerkennung.

Unter Leitung von Prof. Kalweit und unter aktiver Beteiligung der überwiegenden Mehrheit der Wissenschaftler wurde im gesellschaftswissenschaftlichen Forschungsbereich der DAW die Konferenz der Gesellschaftswissenschaftler vom 14.10.197131 gründlich und zielstrebig ausgewertet.

Die von der Konferenz vermittelten Erkenntnisse und die von ihr ausgehende Aufgabenstellung wurde einmütig begrüßt. In den gesellschaftswissenschaftlichen Instituten der DAW wurde eine umfangreiche Arbeit geleistet, um auf der Grundlage des zentralen Planes der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung entsprechende Forschungsprogramme für die Institute zu erarbeiten.

In allen Instituten seien dabei

  • aktive Mitarbeit der Wissenschaftler,

  • sachliche Diskussionen und Streitgespräche sowie

  • Vorschläge zur effektiven Gestaltung der Forschungsarbeit

kennzeichnend gewesen.

Um Einfluss auf die Entwicklung der DAW sei nach wie vor Prof. Mothes,32 Halle, bemüht. Trotz seiner wiederholten Beteuerungen, dass es ihm »allein um die Interessen der DDR-Wissenschaft ginge«, übe er in Wirklichkeit einen negativen Einfluss aus.

Zum Beispiel habe Prof. Mothes als Präsident der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina die Jahresversammlung der Leopoldina im Oktober 1971 in Halle benutzt, um praktisch eine »gesamtdeutsche Veranstaltung« durchzuführen.

(Teilnehmer waren u. a. Prof. Butenandt,33 Präsident der westdeutschen Max-Planck-Gesellschaft, und die Präsidenten von drei westdeutschen wissenschaftlichen Akademien.)

In seiner Festrede habe Prof. Mothes in verschleierter Form zum Ausdruck gebracht, dass »die Wissenschaftspolitik der DDR immer weniger eine schöpferische wissenschaftliche Arbeit möglich« mache. (Prof. Mothes hatte bereits im Mai 1971 bei der Auswertung der Berichterstattung der DAW-Leitung an den Ministerrat, die Prof. Klare vor Mitarbeitern der DAW-Institute in Halle vornahm, die sozialistische Wirtschaftsintegration angegriffen, auf eine Zusammenarbeit mit der USA-Wissenschaft orientiert und Gedanken einer »intellektuellen Elite« verfochten.)

Prof. Klare vertritt als Präsident der DAW gegenüber derartigen Einflüssen mit zunehmender Konsequenz die Wissenschaftspolitik von Partei und Regierung. Er unterstützt nicht zuletzt deshalb eine positive Veränderung in der Zuwahlpolitik der DAW, die in den letzten Jahren eingeleitet wurde, um progressive jüngere Wissenschaftler als Mitglieder in die DAW aufzunehmen. Er bemüht sich gemeinsam mit der Kreisleitung der SED in der DAW, Praktiker der staatlichen Leitung zur Unterstützung für die Mitarbeit in der Leitung der DAW zu gewinnen. Diese Bemühungen hätten jedoch bisher nicht die notwendige Unterstützung seitens des MWT und anderer verantwortlicher Organe gefunden.

Bei einem Teil der Wissenschaftler in der DAW traten im zweiten Halbjahr 1971 Fragen in der Richtung auf, ob die Betonung der führenden Rolle der Arbeiterklasse durch den VIII. Parteitag nicht zu einer »Verminderung der Rolle und des Ansehens der Intelligenz führe«. Nach ihrer Auffassung würde ein Widerspruch zwischen der vom VIII. Parteitag betonten Rolle und den großen Aufgaben von Wissenschaft und Technik einerseits und solchen Maßnahmen, die insbesondere der Arbeiterklasse zugutekommen, andererseits bestehen.

Ungeachtet der klärenden Darlegungen auf der 4. Tagung des ZK,34 des Briefverkehrs mit dem Hauptausschuss der Kammer der Technik, des Empfangs des neugewählten Präsidiums der »Urania«35 durch die Parteiführung und offensiven Auseinandersetzungen mit diesen Wissenschaftlern, zeigen verschiedene Diskussionen, dass dieses Problem nach wie vor eine gewisse Rolle spielt.

Im Zusammenhang mit der Geste des guten Willens36 seitens der DDR gegenüber der Bundesrepublik und Westberlin war bei der überwiegenden Mehrheit der Angehörigen der wissenschaftlichen Intelligenz in der DAW Verständnis und Unterstützung für diesen politischen Schritt zu verzeichnen. Gleichzeitig wurde in den geführten Diskussionen jedoch sichtbar, dass auch nach wie vor bestimmte Illusionen über die gegenwärtige Rolle der SPD und insbesondere über die Rolle Brandts37 verbreitet sind.

Weitere Diskussionen gibt es zu der sich entwickelnden wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit zwischen der UdSSR und der BRD. Bereits seit der Unterzeichnung des Vertrages zwischen der UdSSR und der BRD im August 197038 war zu verzeichnen, dass westdeutsche Wissenschaftler dieses Ereignis gegenüber Wissenschaftlern der DDR als »Beginn auch für eine engere Zusammenarbeit zwischen der DDR und der BRD bezeichneten«.

Bei Wissenschaftlern in der DAW trat im gleichen Zusammenhang die Frage auf, ob angesichts des größeren westdeutschen Potentials auf wirtschaftlichem und wissenschaftlichem Gebiet »die DDR infolge der sich anbahnenden Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und BRD nicht in die Rolle eines zweitrangigen Partners gedrängt werden könnte.«

Genährt wurden derartige Befürchtungen durch die Tatsache, dass der vereinbarte Besuch einer Delegation der DAW im Herbst 1970 bei der Akademie der Wissenschaften der UdSSR verschoben wurde und von sowjetischer Seite zu diesem Zeitpunkt der Empfang einer Delegation aus der BRD39 unter Leitung des damaligen Wissenschaftsministers Leussink40 erfolgte.

Das wiederholte Aufschieben des Empfangs einer Delegation der DAW unter Leitung des Präsidenten, Prof. Klare, durch den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Prof. Keldysch,41 vom Herbst 1971 bis zum April 1972 hat erneut Diskussionen hervorgerufen, in denen Zweifel zum Ausdruck kommen, inwieweit »die DAW überhaupt ein echter Partner für die sowjetische Akademie sei«.

Gegenwärtig wird immer wieder die Frage gestellt, wieso es für Wissenschaftler der UdSSR zunehmend möglich wird, längere Studienaufenthalte in Westdeutschland42 u. a. kapitalistischen Ländern wahrzunehmen, während DDR-Wissenschaftler in dieser Hinsicht keine oder fast keine Möglichkeiten erhalten. Damit wird häufig die Frage verbunden, ob »die Wissenschaftler der DDR dadurch nicht in eine gewisse Isolierung geraten könnten«.

Eine gewisse Missstimmung ist bei verschiedenen Wissenschaftlern hinsichtlich des Bezuges von wissenschaftlicher Literatur aus dem nichtsozialistischen Ausland auf dem Postwege zu verzeichnen.

Die Tatsache, dass die Zollorgane derartige Literatur einziehen, stößt auf Unverständnis.

Als »Begründung« für ihre Haltung zu den letztgenannten Fragen wird von verschiedenen Wissenschaftlern angeführt, dass »der Erfahrungsaustausch auch vom VIII. Parteitag als eine der billigsten Investitionen gekennzeichnet worden sei«.

Von westdeutscher Seite erfolgt nach wie vor eine umfangreiche gezielte Kontakttätigkeit gegenüber der Leitung der DAW, den Forschungseinrichtungen der DAW sowie über persönliche Kontakte zu einzelnen Wissenschaftlern der DAW.

Zunehmend werden Versuche unternommen, auf offiziellem Wege und auf möglichst hoher Ebene Kontakte zwischen Forschungseinrichtungen in Westdeutschland und der DAW zu entwickeln. Der Präsident der DAW erhielt z. B. seit 1970 ständig offizielle Einladungen zu großen wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Veranstaltungen in Westdeutschland, u. a. durch den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, durch die Max-Planck-Gesellschaft, durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft Bonn-Bad Godesberg und durch die westdeutsche Physikalische Gesellschaft.

In den vielfältigsten Formen werden von westdeutscher Seite, insbesondere von Forschungsinstituten, wissenschaftlichen Vereinigungen und Konzernvertretern, Kontakte zu Wissenschaftlern und Instituten der DAW aufrechterhalten bzw. zu entwickeln versucht. Dafür werden insbesondere wissenschaftliche Tagungen und Kongresse, Messen und Ausstellungen, Einreisen in die DDR und Ausreisen von Wissenschaftlern der DDR in das nicht-sozialistische Ausland genutzt.

Die Kontakttätigkeit dient nach bisherigen Überprüfungsergebnissen neben der Abschöpfung von Informationen vor allem der Unterbreitung von Kooperationsangeboten sowie der Propagierung direkt auf die Angehörigen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz der DDR zugeschnittener zersetzender Auffassungen und »Theorien«.

Das betrifft besonders

  • die These von der »gesamtdeutschen Wissenschaft als Klammer zwischen den beiden deutschen Staaten«,

  • die These der »Einheit« der Weltwissenschaft bzw. der europäischen Wissenschaft,

  • die Theorien vom »systemneutralen Wesen« der Wissenschaft und Technik,

  • die Theorien vom »Führungsanspruch« der wissenschaftlichen Intelligenz in der modernen Industriegesellschaft,

  • die These von der »Interessengemeinschaft der kleinen europäischen Länder gegenüber den wissenschaftlichen Großmächten UdSSR und USA«.

Nach wie vor erhalten Wissenschaftler der DAW Einladungen zu wissenschaftlichen Veranstaltungen in Westdeutschland. In mehreren Fällen wurden an Wissenschaftler der DAW in Westdeutschland wissenschaftliche Preise verliehen bzw. Mitgliedschaften in westdeutschen wissenschaftlichen Akademien angetragen. Oftmals werden die Wissenschaftler der DAW als Mitglieder westdeutscher wissenschaftlicher Vereinigungen angesprochen, womit ignoriert wird, dass bis auf wenige emeritierte Wissenschaftler sämtliche Mitarbeiter der DAW bestehende Mitgliedschaften in westdeutschen Gesellschaften gelöst haben.

Von westdeutscher Seite wird in diesem Zusammenhang versucht, den Maßnahmen der DAW zur Auflösung letzter noch bestehender sogenannter gesamtdeutscher Unternehmungen entgegenzuwirken. (Die überwiegende Mehrheit dieser »Gemeinschaftsunternehmungen« wurde im Zeitraum seit 1968 durch die DAW bereits eingestellt.) So versucht z. B. die Heidelberger Akademie der Wissenschaften, als Mitherausgeber des zurzeit noch gemeinsam mit der DAW herausgegebenen »Mathematischen Zentralblattes«,43 der festgelegten Kündigung seitens der DAW dadurch entgegenzuwirken, indem angeboten wird, dass die westdeutsche Redaktion auf ihren Anteil an den Verlagsüberschüssen zugunsten der DAW verzichtet.

Die verschiedenartigen westdeutschen Kontakt- und Kooperationsbestrebungen werden dadurch begünstigt, dass von einem Teil der Wissenschaftler in der DAW die Notwendigkeit der politischen Abgrenzung von der BRD zwar bejaht, eine Abgrenzung auf wissenschaftspolitischem und wissenschaftlichem Gebiet jedoch als nicht erforderlich betrachtet wird.

Nach der Sitzung des Politbüros am 9. Mai 1972, auf der die »Grundsätze für die Leitung, Planung und Finanzierung der Forschung an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin und den Hochschulen der DDR«44 beschlossen wurden, äußerte sich der Präsident der DAW, Prof. Klare, sehr beeindruckt von der sachlichen Atmosphäre im Politbüro.

Er zeigte sich erfreut, dass seine mündlichen Ausführungen zur Begründung und Erläuterung der Vorlage durch die Mitglieder des Politbüros mit großer Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen wurden. Prof. Klare habe es seinen Äußerungen zufolge als »wohltuend empfunden«, dass er nach Beendigung der Politbürositzung durch verschiedene Mitglieder des Politbüros angesprochen wurde, wobei diese interessierende Fragen gestellt und anerkennende Worte zur Arbeit der DAW zum Ausdruck gebracht hätten. Prof. Klare habe die Politbürositzung als Bestätigung dafür eingeschätzt, dass die Wissenschaftspolitik der SED durch eine starke Unterstützung der wissenschaftlichen Forschung, insbesondere auch der Deutschen Akademie der Wissenschaften, gekennzeichnet sei. Er sei weiter der Auffassung, dass mit den vom Politbüro beschlossenen »Grundsätzen für die Leitung, Planung und Finanzierung der Forschung an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin und den Hochschulen der DDR« eine wichtige Grundlage für die engere und konkretere Zusammenarbeit in der Grundlagenforschung zwischen der DAW und dem Hochschulwesen geschaffen worden sei. Er bekräftigte in diesem Zusammenhang jedoch nochmals seine Einschätzung, wonach die Einbeziehung der Grundlagenforschung der Industrie in die Leitung und Planung durch die DAW eine »Überforderung der Leitung der DAW bedeuten würde«.

Da Prof. Klare eine Auslandsreise angetreten hat, beauftragte er seinen Stellvertreter für Forschung, Prof. Hofmann, auf der Grundlage von schriftlichen und mündlichen Informationen Prof. Klares eine Auswertung der Politbürositzung vom 9. Mai 1972 im Präsidium der DAW vorzunehmen. Prof. Klare legte weiter fest, dass auf der Grundlage des genannten Beschlusses im Juni 1972 eine Konferenz aller Direktoren der Institute und Einrichtungen der DAW durchgeführt wird, auf der die Beratung im Politbüro ausgewertet und der Beschluss erläutert wird.

Im Präsidium der DAW wurde mit offensichtlichem Bedauern zur Kenntnis genommen, dass die vorgesehene Beratung des 1. Sekretärs des ZK der SED, Genosse Honecker,45 mit Wissenschaftlern am 25. Mai 1972 in einem relativ kleinen Kreis und ohne Besichtigung von Instituten und anderen Einrichtungen der DAW durchgeführt werden soll.

(Für die Teilnahme an dieser Beratung seien bisher 19 Personen, darunter die Mitglieder des Präsidiums der DAW einschließlich der Leiter der Forschungsbereiche, benannt worden.)

Insbesondere nach dem Besuch des 1. Sekretärs des ZK der SED bei Berliner Bauarbeitern46 wurden im Präsidium der DAW Vorbereitungen dafür getroffen, den Besuch des Genossen Honecker in der DAW am 25. Mai 1972 in einem ähnlich großen Rahmen durchzuführen.47 Es wurde in Aussicht genommen, dass der Genosse Honecker bei dieser Gelegenheit eventuell auch Institute der DAW in Berlin besuchen wird, um sich über den Stand und die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit zu informieren.

(Vorgesehen wurden dafür das Zentralinstitut für Optik und Spektroskopie und das Zentralinstitut für anorganische Chemie, insbesondere dessen Bereich Silikatforschung in Berlin-Adlershof.)

  1. Zum nächsten Dokument Entwicklung des Reise- und Transitverkehrs (17.5.–20.5.) (1)

    21. Mai 1972
    Information Nr. 501/72 über die Abfertigung und Abwicklung des Reise- und Besucherverkehrs Westberliner Bürger in die DDR und des wechselseitigen Transitverkehrs von zivilen Personen und Gütern zwischen der BRD und Westberlin im Zeitraum vom 17. bis 20. Mai 1972

  2. Zum vorherigen Dokument Belastung der Grenzübergänge bei Westberliner Einreisen

    19. Mai 1972
    Information Nr. 498/72 über Schwerpunkte in der Belastung der Grenzübergangsstellen im Zusammenhang mit der Einreise Westberliner Bürger