Probleme mit 500-MW-Blockeinheiten im Kraftwerk Hagenwerder
4. Mai 1972
Information Nr. 412/72 über Probleme des Einsatzes von 500-MW-Blockeinheiten im Kraftwerk Hagenwerder III
Im Zusammenhang mit dem Einsatz von 500-MW-Blockeinheiten im Kraftwerk Hagenwerder III wurden dem MfS folgende Hinweise bekannt:
Die zu Beginn des Jahres 1968 durch die staatliche Plankommission im Zusammenwirken mit der ständigen Prognosegruppe »Energiewirtschaft« des Ministerrates ausgearbeitete Prognose über die »Entwicklung der Energiewirtschaft im Prognosezeitraum« (Ministerratsbeschluss 01–17/2/68 vom 16.5.1968)1 basierte im Wesentlichen auf solchen grundsätzlichen Überlegungen, wonach
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die Elektroenergie nach 1980 immer mehr zum bestimmenden Energieträger wird und
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der erforderliche Aufwand für die Errichtung und den Betrieb neuer Kraftwerkseinheiten mit dem Einsatz größerer Blockeinheiten relativ (bezogen auf die Leistungseinheit – 1 KW) sinkt.
Ausgehend insbesondere vom letzteren Gesichtspunkt wurde in der Prognose dementsprechend dargelegt, dass der Einsatz von Blöcken mit einer Leistung von 500 MW gegenüber den 200-MW-Blöcken vor allem im Betrieb durch Senkung des spezifischen Wärmeverbrauchs je kWh und durch geringere Anzahl von Arbeitskräften ökonomischer ist.
(Auch in der UdSSR wurden zu diesem Zeitpunkt aus den gleichen Gründen bereits keine Weiterentwicklungen der 200-MW-Blöcke mehr vorgenommen.)
Auf der Basis der in der Prognose getroffenen Feststellungen hinsichtlich der Notwendigkeit des Einsatzes von 500-MW-Blöcken wurde für den Kraftwerksanlagenbau der DDR die Forderung erhoben, entsprechende Dampferzeuger für diese Blöcke mit einer Leistung von 800 t/h zu produzieren.
Der in der Prognose von 1968 eingeschätzte Trend zum Einsatz größerer Blockeinheiten wird durch einen Bericht der Ständigen Vertretung der paritätischen Regierungskommission DDR – UdSSR vom 30.3.1972 bestätigt.2
Ausgehend von der Kenntnis der Entwicklung von 500-MW-Turbosätzen in der UdSSR entstand der Vorschlag, das Kraftwerk Hagenwerder III in enger kooperativer Zusammenarbeit mit der Sowjetunion zu errichten.
Auf Wunsch der DDR nahm die UdSSR eine Umprojektierung des 500-MW-Turbosatzes für speziell aus der Brennstoffproblematik der DDR folgende Anforderungen vor.
(Die Lieferung der zwei Turbosätze für Hagenwerder III wurde über einen Importvertrag vom 26.8.1968 zwischen Außenhandelsunternehmen der Sowjetunion und der DDR vereinbart. Die Lieferung eines 500-MW-Turbosatzes für das Kraftwerk Boxberg III wurde lt. Protokoll vom 29.10.1969, unterzeichnet durch die Minister Zimmermann3 und Skatschkow,4 festgelegt.)
Wie Fachleute wiederholt bestätigten, ist die Entscheidung zum Einsatz von 500-MW-Blockeinheiten in der Energiewirtschaft der DDR prinzipiell als eine ökonomische und technisch durchaus begründete und mögliche Variante in der weiteren Entwicklung des Aufkommens an Elektroenergie einzuschätzen.
Eine Delegation des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, die im Jahre 1971 sowjetische Erfahrungen im Kraftwerksbau studierte, wurde durch sowjetische Wissenschaftler in diesem Zusammenhang auf folgende Umstände hingewiesen:
- 1.
Der Einsatz von Kraftwerksblöcken über 500 MW sei für die DDR wegen der niedrigen Brennstoffqualität nicht zu empfehlen.
- 2.
Die 1973 im Kraftwerk Hagenwerder III zum Einsatz kommenden 500-MW-Blöcke sind Prototypen. Es werde ein Zeitraum von mindestens zwei bis drei Jahren erforderlich sein, um die projektierten Parameter zu erreichen. Diese Tatsache entspreche sowjetischen Erfahrungen und müsse bei der Bilanzierung unbedingt berücksichtigt werden.
- 3.
In der Sowjetunion eingesetzte Kraftwerksblöcke ab 300 MW wurden mithilfe von EDV-Anlagen komplex automatisiert, da die sich notwendig machenden komplizierten Steuer- und Regelprozesse manuell nicht mehr einwandfrei zu beherrschen seien.
Für die von der DDR zu entwickelndem Dampferzeuger ergeben sich nach Auffassung von Experten folgende Probleme:
Für die in der UdSSR entwickelten Turbosätze 500 MW wurde zum Erreichen der Nennleistung ein Dampfverbrauch von 1 480 t/h projektiert.
Dieser Dampf wird in der Sowjetunion durch Dampferzeuger mit sogenannten »überkritischen« Parametern (Dampfdruck 240 at, Dampftemperatur 560 °C) erzeugt.
In der DDR würde die Verwendung dieser Dampferzeuger wegen der wesentlich schlechteren Qualität der zur Verfügung stehenden Brennstoffe (Braunkohle) zu hohen ökonomischen Verlusten führen. Deshalb wurde die Entwicklung eines neuen, mit »unterkritischen« Werten (166 at, 530 °C) arbeitenden Dampferzeugers erforderlich. Während die Sowjetunion den Turbosatz auf diese Werte hin umprojektierte, übernahm die DDR die Entwicklung eines entsprechenden Dampferzeugers.
Ausgehend von der bereits abgeschlossenen Entwicklung eines Dampferzeugers nach dem Zwangsdurchlaufprinzip mit einer Leistung von 50 t/h wurde die Entwicklung eines Zwangsdurchlauf-Dampferzeugers mit einer Leistung von 815 t/h aufgenommen. (je zwei dieser Dampferzeuger waren im Duo-Betrieb für eine 500-MW-Maschine vorgesehen.)
Dazu ist zu bemerken, dass der DDR-Dampferzeugerbau zwar über umfangreiche Erfahrungen beim Bau großer Dampferzeuger nach dem Naturdurchlaufprinzip verfügte, jedoch nicht beim Zwangsdurchlauf.
Wie aus entsprechenden Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen von Fachleuten hervorgeht, reduzierte die Orientierung auf »unterkritische« Parameter technische und werkstoffbedingte Probleme des Dampferzeugers, der Rohrleitungssysteme usw. und senkte die Investitionskosten.
Andererseits wird jedoch durch den gleichen Personenkreis eingeschätzt, dass vorgenannte Entscheidung aufgrund des Entwicklungssprunges von 50 t/h auf 800 t/h von vornherein mit einem hohen Risiko behaftet war.
Ausgehend von den getroffenen Entscheidungen, das Kraftwerk Hagenwerder III mit zwei sowjetischen 500-MW-Turbosätzen nach »unterkritischen« Parametern, die in der Praxis noch nicht erprobt sind, und mit vier Dampferzeugern 815 t/h, die DDR-Neuentwicklungen darstellen, auszurüsten, ergibt sich nach vorliegender Praxis die Notwendigkeit, Hagenwerder III als ein Prototyp-Kraftwerk einzuschätzen, für dessen Betrieb noch keine echten Erfahrungen vorliegen.
Diese spezifische Problematik wird durch den Umfang der erforderlichen Kooperationsleistungen aus der DDR selbst sowie der notwendigen Importe aus sozialistischen und kapitalistischen Ländern noch verstärkt.
Vorgesehen ist lt. Führungsnetzplan Hagenwerder III die Realisierung folgender Termine:
[Blockeinheit] | Probebetrieb | Dauerbetrieb |
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1. Blockeinheit | I. Quartal 1974 | III. Quartal 1975 |
2. Blockeinheit | III. Quartal 1975 | III. Quartal 1976 |
Diese Termine wurden in der »2. Ergänzung zur Grundsatzentscheidung« vom 18.8.1971 nochmals bestätigt, obwohl durch sowjetische Experten spätestens im Januar 1971 darauf verwiesen wurde, dass für derartige Blockeinheiten ein Zeitraum von mindestens zwei bis drei Jahren für die Erreichung der projektierten Leistung erforderlich sei (siehe Bericht der ZK-Delegation vom 3.2.1971).5
Als von vornherein umstritten wird durch Fachleute die seitens des damaligen Ministeriums für Grundstoffindustrie und des Instituts für Kraftwerke bereits am 21.12.1967 erhobene Forderung eingeschätzt, die 500-MW-Blöcke im Aussetzerbetrieb (Einsatz vorwiegend zum Abfangen jahreszeitlich und täglich auftretender Belastungsspitzen durch Hoch- bzw. Abfahren der betreffenden Blockeinheit) zu fahren.
Gegen diese bis heute nicht zurückgezogene und die Risikoproblematik vergrößernde Forderung werden vor allem folgende Bedenken vorgebracht:
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Der Betrieb großer Blockeinheiten ist ökonomisch günstiger als der von kleineren.
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Der tägliche Aussetzerbetrieb erfordert die Einhaltung eines schwierigen Betriebsregimes (vergleiche Hinweise sowjetischer Experten über Notwendigkeit der automatisierten Steuerung von Maschinen ab 300 MW).
Aus diesen Gründen ist der Einsatz der großen Blockeinheiten gerade zur Abdeckung der ständig vorhandenen Grundlast, nicht aber im Aussetzerbetrieb, international üblich.
Im Verlaufe der bisherigen Arbeiten zur Errichtung des Kraftwerkes Hagenwerder III ergaben sich bisher eine Reihe von Schwierigkeiten, die einschlägige Experten zu der Einschätzung veranlassen, dass die Inbetriebnahme des Kraftwerkes mit vielen Unsicherheitsfaktoren verknüpft sei.
So kann z. B. nach dem MfS vorliegenden Hinweisen der zur Aufnahme des Probebetriebes der ersten 500-MW-Blockeinheit erforderliche 815 t/h-Dampferzeuger nicht termingemäß geliefert werden. Ein weiteres Problem besteht zurzeit in der Bereitstellung des für den Betrieb des Dampferzeugers erforderlichen Luftvorwärmers.
Die jahrelangen Entwicklungen des VEB Dampferzeugerbau Berlin führten zu keinem Ergebnis. Aus diesem Grunde wurde für den Luftvorwärmer eine Lizenznahme aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet (Fa. Kraftwerksanlagen Heidelberg6/BRD) erforderlich. Daraus folgt neben einer technisch-wissenschaftlichen Abhängigkeit und umfangreichen Kosten insbesondere die Notwendigkeit eines langfristigen durchgängigen Einsatzes (ca. 18 Monate) westdeutscher Leitmonteure.
(Nach Auffassung der leitenden Mitarbeiter des VEB Dampferzeugerbau sei dieser Einsatz unumgänglich.)
Hinzu kommt, dass sich verschiedene Importe aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet als echte Störfaktoren herausstellten. So wiesen z. B. die vom Hoesch-Konzern/BRD bezogenen Rohre Abweichungen von der vereinbarten Materialgüte und Mängel in den durchgeführten Schweißungen auf.
Auch in verschiedenen weiteren Positionen besteht eine echte Abhängigkeit von Zulieferungen aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet.
In bestimmtem Maße entstehen darüber hinaus Probleme durch die umfangreichen Kooperationsbeziehungen mit anderen sozialistischen Ländern. Vorhandenen Hinweisen zufolge hat vor allem die ČSSR Schwierigkeiten bei der Einhaltung vereinbarter Termine für die Lieferung von Teilen für Dampferzeuger und Luftvorwärmer.
Weitere Probleme ergeben sich daraus, dass die für das Kraftwerk vorgesehenen zwei Blocktransformatoren ebenfalls Neuentwicklungen darstellen.
Der für die Steuer- und Regelungstechnik verantwortliche VEB Geräte- und Reglerwerke Teltow lehnt Garantien für die Funktionssicherheit vollkommen ab bzw. schränkt sie ein. Damit wäre jedoch eine solch wichtige Frage wie der automatisierte Betrieb der 500-MW-Blöcke ungesichert.
Ebenfalls als noch ungeklärt wird von Fachleuten eingeschätzt, wie und in welcher Form die 500-MW-Turbosätze von der DDR reparaturmäßig beherrscht werden sollen, da die Montage unter sowjetischer Leitung durch Fachpersonal aus der Volksrepublik Polen durchgeführt wird.
Nachdem bereits seit längerer Zeit Anzeichen für ein Zurückbleiben des Tagebauaufschlusses bestanden, wird jetzt eingeschätzt, dass die künftige Kohleversorgung für das Kraftwerk Hagenwerder III als nicht gesichert zu betrachten sei. Die Rückstände im Aufschluss werden auch durch die bereits aufgetretenen Terminverzüge in Bau und Montage nicht kompensiert.
Die VVB Kraftwerksanlagenbau wurde am 15.3.1972 durch den Minister für Schwermaschinen- und Anlagenbau beauftragt, bis zum 30.4.1972 Maßnahmen zur Entlastung der Kohlesituation durch
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Einsatz der Reichsbahn
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Einsatz von Heizöl und
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Anpassung der Lagerplätze und Anlagen auf Bekohlung durch Züge
zu treffen. Das würde zwangsläufig umfangreiche Änderungen im Generalplan und im Projekt, Bereitstellungen an Bau- und Gleisbaukapazität usw. nach sich ziehen. Allein der Aufwand für den Aufbau einer Anlage für die Versorgung durch Kohlezüge wird auf rund 75 Mio. Mark geschätzt. Für die Vorbereitung und Realisierung eines solchen Investobjektes bestehen zurzeit jedoch keinerlei Voraussetzungen.
Im Zusammenhang mit den Terminverschiebungen für Hagenwerder III weisen Fachleute darauf hin, dass diese Verzögerungen von der sowjetischen Seite mit Missbilligung aufgenommen würden, da die UdSSR am frühestmöglichen Einsatz ihrer Maschinen interessiert sei.
Vorgenannte Hinweise des MfS zur Gesamtproblematik Hagenwerder III werden durch entsprechende Informationen der im Bereich Kraftwerksanlagenbau eingesetzten Sicherheitsbeauftragten erhärtet.