Probleme mit Amnestiebeschluss und Familienzusammenführung
Oktober 1972
Hinweise auf Probleme, die im Zusammenhang mit der Realisierung des Amnestiebeschlusses des Staatsrates und der Maßnahmen zur Familienzusammenführung aufgetreten sind [Bericht K 2/35b]
1. Am 1.11.1972 wurden in Realisierung des Amnestiebeschlusses des Staatsrates der DDR1 und aufgrund einer zentralen Entscheidung 255 amnestierte Personen, Bürger der BRD, Westberlins und Staatenlose, darunter 170 Personen, die die Staatsbürgerschaft der DDR verloren haben, nach der BRD bzw. Westberlin entlassen bzw. ausgewiesen.
Ein Teil der 170 Personen, die die Staatsbürgerschaft der DDR verloren haben und die nach der BRD bzw. Westberlin entlassen bzw. ausgewiesen wurden, hat in der DDR Ehepartner und Kinder (ca. 75 Familienangehörige), die zu diesem Zeitpunkt nicht mit übersiedeln konnten.
2. Unter den in den Strafvollzugsanstalten inhaftierten DDR-Bürgern, die unter die Amnestie fallen, wurden ca. 2 500 Personen festgestellt, die
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erklärten bzw. durch ihr Verhalten in den Strafvollzugsanstalten eindeutig zu erkennen gaben, dass sie nach ihrer Entlassung aus dem Strafvollzug alles unternehmen werden, um die DDR nach der BRD bzw. Westberlin zu verlassen (bestimmte Pläne und Absichten reichen bis zur gewaltsamen Flugzeugentführung, Geiselnahme von Persönlichkeiten zur Erzwingung der Übersiedlung und gewaltsamen Grenzdurchbrüchen),
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durch ihr gesamtes bisheriges Verhalten, einschließlich ihres Auftretens in den Strafvollzugsanstalten, unter Beweis stellten, dass sie nicht gewillt sind, sich in das gesellschaftliche Leben der DDR einzugliedern (aufgrund ihrer feindlichen Einstellung zur DDR bzw. ihrer kriminellen und asozialen Grundeinstellung) und von denen deshalb eine ständige Gefahr für die Sicherheit und Ordnung in der DDR ausgeht.
Bei diesen Personen handelt es sich vor allem um solche,
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die, häufig wiederholt, wegen des Versuchs des ungesetzlichen Verlassens der DDR, teilweise über andere sozialistische Staaten, straffällig wurden,
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die wegen staatsfeindlichen Handlungen – z. B. staatsfeindliche Hetze, Terror, Spionage – vorbestraft waren und ihre feindliche Einstellung zur DDR nicht aufgegeben haben und von denen weitere derartige Straftaten ausgehen können,
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die wiederholt wegen krimineller Straftaten – Straftaten gegen das sozialistische Eigentum; Rowdytum, Widerstand gegen staatliche Maßnahmen u. a. – vorbestraft sind und bei denen erhebliche Gefahren der Rückfälligkeit bestehen,
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die, teilweise bereits über längere Zeit, Anträge auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR und auf Übersiedlung nach der BRD bzw. Westberlin gestellt haben und in diesem Zusammenhang mit Eingaben, Vorsprachen, Drohungen u. Ä. bei den staatlichen Organen der DDR aufgetreten sind.
Diese Personen verfügen zum größten Teil über enge familiäre Bindungen zu Personen in der BRD bzw. Westberlin, mit denen sie zusammenleben wollen. Häufig haben sie in der DDR keine dementsprechenden Bindungen.
3. Aufgrund der zentralen Entscheidung zur wirksamen Unterstützung der politischen Maßnahmen wurden von den unter Punkt 2 genannten Personen im Zeitraum vom 7.11.1972 bis 14.11.1972 630 amnestierte Strafgefangene, die schriftliche Anträge auf Aberkennung der Staatsbürgerschaft der DDR gestellt hatten, nach gründlicher individueller Prüfung nach der BRD bzw. Westberlin entlassen.
(Diesen Personen wurde im Zusammenhang mit ihrer Entlassung nach der BRD bzw. Westberlin auf entsprechende Fragen erklärt, dass Anträge ihrer in der DDR lebenden Angehörigen, soweit vorhanden (Ehepartner und Kinder), auf Übersiedlung nach der BRD bzw. Westberlin auf der Grundlage der gesetzlichen Bestimmungen der DDR geprüft und entschieden werden.)
4. Von den unter Punkt 2. genannten Personen, die unter die Amnestie fallen, befinden sich gegenwärtig noch ca. 1 800 in den Strafvollzugsanstalten der DDR. Ihre Entlassung in die DDR würde aus den unter Punkt 2 angeführten Gründen zu einer erheblichen Gefährdung der Sicherheit und Ordnung, besonders der Sicherheit an den Staatsgrenzen der DDR und anderer sozialistischer Staaten führen (das beweist auch der Wiederanfall bereits amnestierter und entlassener Personen mit erneuten Versuchen des ungesetzlichen Verlassens der DDR).
Mit 200 dieser Personen (die sich in Karl-Marx-Stadt2 befinden) wurden bereits entsprechende Aussprachen zur Überprüfung ihrer Anträge auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR geführt; wobei diese Personen allgemein von der Erwartung ausgingen, dass ihren Anträgen zugestimmt wird.
Die Entlassung der übrigen 1 600 Strafgefangenen aus den Strafvollzugsanstalten, für die im Wesentlichen die gleichen Bedingungen wie bei den 630 bereits nach der BRD bzw. Westberlin entlassenen Amnestierten zutreffen, wurde bis zur Herbeiführung entsprechender zentraler Entscheidungen vorläufig zurückgestellt.
Im Zusammenhang mit der fortschreitenden Entlassung Amnestierter wachsen die Bestrebungen dieser Personen, Klarheit über ihre Amnestierung und Entlassung zu erhalten.
5. Auf der Grundlage einer entsprechenden zentralen Entscheidung vom 3.11.1972 wurden Vorbereitungen zur Übersiedlung von
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Familienangehörigen solcher Amnestierter, die infolge Verlust der Staatsbürgerschaft der DDR am 1.11.1972 nach der BRD bzw. Westberlin entlassen wurden (siehe Punkt 1),
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Familienangehörigen solcher Amnestierter, die aus den unter Punkt 2 aufgeführten Gründen entsprechend ihrem Antrag aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen und in die BRD bzw. Westberlin übersiedelt wurden (siehe Punkt 3),
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Personen, die gemäß Amnestiebeschluss bis 31.10.1972 aus der Untersuchungshaft entlassen wurden und den gleichen Bedingungen entsprechen wie die unter Punkt 2 charakterisierten Strafgefangenen, sowie deren Familienangehörigen,
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Personen, die wiederholt Anträge auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR gestellt hatten, bereits wegen versuchten ungesetzlichen Verlassene der DDR straffällig geworden waren, als Rückkehrer und Erstzuziehende sich nicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR eingegliedert haben und durch ihr Gesamtverhalten sowie ihre ausgeprägten westlichen Bindungen und Grundeinstellungen die Sicherheit und Ordnung in der DDR erheblich beeinträchtigten (Liste Volpert3 – 368 Erwachsene mit 458 Kindern)
getroffen.
Es handelt sich dabei um ca. 635 Erwachsene mit ca. 580 Kindern.
Auf der Grundlage der von ihnen gestellten Anträge auf Übersiedlung nach der BRD bzw. Westberlin erfolgten die erforderlichen Überprüfungsmaßnahmen und Entscheidungen entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen der DDR.
Diese Personen, bis auf wenige Ausnahmen, wurden entsprechend den getroffenen Festlegungen durch die Abteilungen Inneres der Räte der Bezirke und Kreise von der erfolgten Genehmigung zur Übersiedlung informiert und befinden sich teilweise bereits im Besitz der dazu erforderlichen Dokumente. Von ihnen wurden Maßnahmen eingeleitet
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zur Bindung von Transportkapazitäten zur Überführung des Umzugsgutes,
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zur Sicherung der binnenzollamtlichen Abfertigung des Umzugsgutes,
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zum Verkauf entsprechender Einrichtungsgegenstände usw.
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zur Lösung des Arbeitsrechtsverhältnisses,
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zur Abmeldung von Kindern aus Vorschul- und Schuleinrichtungen u. a. m.
die aufgrund des angewiesenen Stopps der Übersiedlung rückgängig gemacht werden mussten.
Damit verbunden waren die Rückgängigmachung von bereits ausgesprochenen Wohnungszuweisungen, die notwendige Beschaffung von Ersatzwohnungen, die Wiedereinstellung in Betriebe usw.
Von den betroffenen Personenkreisen erfolgen im wachsenden Maße Eingaben und Beschwerden an örtliche und zentrale Staatsorgane mit finanziellen Forderungen, Androhungen auf gerichtliche Klagen usw.
Bei den zur Übersiedlung vorgesehenen Familienangehörigen handelt es sich wiederholt ebenfalls um Personen,
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die wegen des Versuchs des ungesetzlichen Verlassens der DDR u. a. krimineller Straftaten vorbestraft sind und eine feindlich-negative Grundeinstellung zur DDR besitzen,
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die häufig schon über längere Zeit eine Übersiedlung nach der BRD bzw. Westberlin anstrebten und mit entsprechenden Plänen und Maßnahmen drohten.
Diese Personen bilden in der Regel ebenfalls einen ständigen Unsicherheitsfaktor für die Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung.
Anlage zum Bericht K 2/35b
Beispiele für die vorgesehene Übersiedlung von Familienangehörigen Amnestierter, die durch eigenen Antrag auf der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen und nach der BRD abgeschoben wurden:
[Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1941, wohnhaft: Wriezen, Kreis Bad Freienwalde, [Straße, Nr.] und vier Kinder im Alter von sieben bis zwei Jahren
Der Ehemann der [Name 1] wurde am 24.2.1971 wegen Verbrechen gemäß §§ 185,4 2135 StGB zu fünf Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Bei der Familie [Name 1] handelt es sich um eine Familie mit asozialer Lebensweise. Beide Ehepartner sind ausgesprochene Alkoholiker. Die beiden schulpflichtigen Kinder besuchen die Sonderschule. Nachdem die [Name 1] erfahren hatte, dass die Übersiedlung genehmigt ist, löste sie kurzfristig den gesamten Haushalt auf. Das Umzugsgut ist versandfertig gepackt.
Von den Einnahmen aus der Haushaltsauflösung wurden die Kinder eingekleidet. Der Rest wurde einem Bürger aus Wriezen übergeben mit der Maßgabe, diesen Betrag der [Name 1] erst am Übersiedlungstag auszuhändigen, um zu verhindern, dass dieses Geld in Alkohol umgesetzt wird. Da die Barmittel aufgebraucht sind macht sich eine Unterstützung durch die örtlichen Organe notwendig.
[Name 2, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1948, wohnhaft: Sternberg, Ritterstraße 39
[Name 2] hat fünf Vorstrafen, davon drei wegen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritten sowie zwei wegen Staatsverleumdung und Widerstand gegen staatliche Maßnahmen. Er versuchte bis Juli 1972 in zehn Fällen die DDR ungesetzlich über die ČSSR bzw. die VR Polen nach der BRD zu verlassen. Er hat seine Absicht, die DDR ungesetzlich zu verlassen, nicht aufgegeben. Seine politische Grundhaltung ist – ebenso wie die seiner Familie – negativ. Er wechselte häufig die Arbeitsstellen und fiel wegen Arbeitsbummelei an.
[Name 3, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1934, wohnhaft in Schwerin
[Name 3] hat bis 1954 die DDR zweimal ungesetzlich verlassen, war von 1954 bis 1963 in der französischen Fremdenlegion. 1964 kehrte er in die DDR zurück. Er ist Alkoholiker und wurde 1970 wegen asozialen Verhaltens inhaftiert. Am 22.6.1972 wurde er aus der Arbeitserziehung entlassen. Seit dieser Zeit geht er keiner geregelten Arbeit nach. Er beschäftigt sich ständig mit Plänen des ungesetzlichen Verlassens der DDR. Im August/September 1972 beging er mehrere Einbruchsdiebstähle und wurde am 5.9.1972 beim Versuch des ungesetzlichen Verlassens der DDR festgenommen.
[Name 4, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1939, wohnhaft Neustrelitz, [Straße, Nr.]
[Name 4] ist mehrfach vorbestraft, in zwei Fällen wegen ungesetzlichen Grenzübertrittes. Nach vierjähriger Haft unternahm er am 26.8.1972 erneut den Versuch des ungesetzlichen Grenzübertrittes. Er ist geschieden und hat vier Kinder, die sämtlich in der BRD leben.
[Name 5, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1944, wohnhaft Quedlinburg, [Straße, Nr.]
[Name 5] ist wegen ungesetzlichen Grenzübertrittes vorbestraft. Familie [Name 5] hat mehrfach Antrag auf Übersiedlung in die BRD gestellt, da sie als »einfache Arbeiter« in der DDR keine Perspektive sehen würden. Die Familie ist asozial. Beide Ehepartner unterhielten in der Vergangenheit umfangreich außereheliche Beziehungen.
[Name 6, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1929, wohnhaft in Dippoldiswalde, [Straße, Nr.]
Stellte mehrfach Anträge zwecks Übersiedlung nach der BRD. Er ist neun Mal vorbestraft, davon zwei Mal wegen ungesetzlichen Grenzübertrittes und zwei Mal wegen Staatsverleumdung. Er ist Arbeitsbummelant und als asoziales Element einzuschätzen.
[Name 7, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1939, wohnhaft Berlin, [Straße, Nr.]
[Name 7] und seine Familie haben eine negative Einstellung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR. [Name 7, Vorname] ist ein kriminelles, asoziales Element. Er ist wegen Unzucht, Vereitelung von Erziehungsmaßnahmen, Sachbeschädigung und ungesetzlichen Grenzübertrittes vorbestraft.
Reineck, Karl-Heinz,6 geboren 6.4.1914, wohnhaft Berlin, Hauptstraße 41 a
Hat seit 1963 in ca. 40 anonymen Briefen/Postkarten führende Funktionäre wegen ihrer staatlichen und gesellschaftlichen Tätigkeit diskriminiert und die Beseitigung der sozialistischen Gesellschaftsordnung gefordert.