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Reaktionen auf Amnestiebeschluss zum 23. Jahrestag der DDR

2. November 1972
Information Nr. 999/72 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR zum Beschluss über eine Amnestie aus Anlass des 23. Jahrestages der Gründung der DDR

Nach den dem MfS vorliegenden Informationen fand der Beschluss über eine Amnestie1 in allen Bevölkerungsschichten der DDR starke Beachtung. In vielen Diskussionen wurden diese Maßnahmen als Ausdruck der gewachsenen politischen Stärke und Autorität unserer Republik und als eine zielgerichtete politische Entscheidung zur weiteren Festigung und zum Ausbau der internationalen Position der DDR gewertet. Zustimmend wird darauf verwiesen, dass durch diesen Beschluss das Prestige der DDR – besonders im Zusammenhang mit den Bemühungen um die Aufnahme in die UNO2 sowie um die Einberufung einer europäischen Sicherheitskonferenz3 – weiter gestiegen sei und die Maßnahmen sich begünstigend auf die Atmosphäre bei den Verhandlungen zwischen der DDR und der BRD4 auswirken würden.

Ein großer Teil der interessierten Bürger brachte seine Überraschung zum Beschluss, besonders zum Umfang und Zeitpunkt der Maßnahmen zum Ausdruck.

Besonderes Interesse wird dem Amnestiebeschluss gegenwärtig vor allem von

  • Angehörigen und Bekannten von Straf- und Untersuchungsgefangenen,

  • Angehörigen der Organe der Justiz und des MdI,

  • Straf- und Untersuchungsgefangenen,

  • Angehörigen der Betriebe, in denen bisher Strafgefangene tätig waren, und

  • von Bürgern der DDR, die sich politischen Tagesfragen gegenüber aufgeschlossen verhalten

entgegengebracht.

Während unmittelbar nach der Veröffentlichung des Beschlusses überwiegend Zustimmung zu erkennen war, haben sich jedoch nach den vorliegenden Informationen in der Folgezeit die Bedenken und Befürchtungen über die damit verbundenen Auswirkungen erheblich verstärkt.

Diese Bedenken und Befürchtungen beziehen sich vor allem auf folgende Fragen:

  • ob die amnestierten Personen bereits die richtigen Schlussfolgerungen gezogen hätten und in Zukunft bereit wären, sich in die Gesellschaft voll einzuordnen;

  • ob nicht durch die Entlassung so vieler Straftäter die Ordnung und Sicherheit der Bevölkerung gefährdet werde;

  • ob nicht durch die vorzeitige Freilassung der Strafgefangenen der Umerziehungsprozess unterbrochen und die Gefahr der Rückfälligkeit verstärkt worden sei;

  • ob nicht dadurch die Kriminalität, vor allem die Rückfallkriminalität, erneut ansteigen werde;

  • ob sich die Entlassung der Strafgefangenen nicht in negativer Weise auf die bereits angespannte Wohnraumsituation auswirken werde;

  • ob mit der Entlassung der Strafgefangenen nicht zu große ökonomische Auswirkungen verbunden seien;

  • ob nicht die Amnestie ungünstige Auswirkungen auf die Vorbereitung und Durchführung der X. Weltfestspiele5 haben könnte;

  • ob die Schutz- und Sicherheitsorgane den mit der Freilassung der Straf- und Untersuchungsgefangenen verbundenen zusätzlichen Belastungen gewachsen seien.

Bei allgemeiner Zustimmung zum Amnestiebeschluss wird verbreitet die Frage aufgeworfen, ob der Umfang der Amnestie berechtigt sei, wobei wiederholt zum Ausdruck gebracht wird, dass die Humanität der DDR nicht auf Kosten der Ordnung und Sicherheit gehen dürfe.

Beachtenswert sind weiter folgende Tendenzen in der Reaktion bestimmter Personenkreise:

Die Amnestie sei zu großzügig, da sie sich sogar auf Personen erstrecke, die ihre Haftstrafe noch nicht einmal angetreten hätten. Die Amnestie hätte sich nur auf Verurteilte vor dem 1.1.1972 oder weiter zurück erstrecken dürfen. Besonders wichtig wäre das bei solchen Personen, die die DDR ungesetzlich verlassen wollten, da sie häufig an ihrem Verhalten festhielten, bzw. die wegen Staats- oder anderer gefährlicher Verbrechen verurteilt wurden.

Ähnliche Auffassungen wurden aus Betrieben, Einrichtungen usw. bekannt, aus denen in jüngster Vergangenheit Angehörige wegen jahrelanger Schädigung des Volkseigentums inhaftiert wurden. Besorgnis wird dahingehend geäußert, dass diese Personen nach ihrer Amnestierung ihre schädigende Tätigkeit fortsetzen könnten, da innerhalb der kurzen Haftzeit kaum die erforderliche Umerziehung erreicht worden sein kann.

Aus dem Gaststättenwesen, besonders Gaststätten in den Wohngebieten, werden wiederholt Befürchtungen geäußert, dass sie sich zu Treffpunkten Amnestierter, besonders von rowdyhaften Jugendlichen, entwickeln und dadurch die Ruhe und Ordnung gestört werden könnten.

In weiteren Diskussionen wurden Zweifel dahingehend geäußert, ob die Feststellung des Beschlusses hinsichtlich der gewachsenen politisch-moralischen Einheit unserer Bevölkerung voll berechtigt sei. Als Begründung wird dabei zum Ausdruck gebracht, dass diese Einschätzung auf ihr Wohngebiet oder ihren Betrieb nicht voll zutreffe. Damit würden zugleich wesentliche Bedingungen fehlen, um diese Personen unter wirksamer gesellschaftlicher Kontrolle halten zu können. Besonders in den Wohngebieten wäre der Einfluss der gesellschaftlichen Kräfte noch zu gering.

In wiederholten Fällen wurde auch von Angestellten der Abteilungen Inneres zum Ausdruck gebracht, sie seien aufgrund der unbefriedigenden kadermäßigen Besetzung ihrer Dienstbereiche nicht in der Lage, zusätzliche Aufgaben, die sich für sie aus der Amnestie ergeben (Kontrollaufgaben), zu lösen. (Ähnliche Argumente kommen von Angehörigen der Kommissionen Ordnung und Sicherheit.)

Weitere Diskussionen haben zum Inhalt, ob nicht mit der Entlassung vieler wegen staats- und anderer gefährlicher Verbrechen Verurteilter die negativen Kräfte in der DDR gestärkt und die durch die »durchlässigere Grenze« entstandene politische Situation noch weiter kompliziert werden würde. Die negativen Kräfte würden durch die Amnestie den »Beweis« erhalten, dass strafbare Handlungen nicht mit der bisherigen Härte geahndet würden und könnten von einer solchen Einschätzung ausgehend unter Umständen ihre Handlungen fortsetzen.

Aus Grenzkreisen und bewaffneten Organen wurden wiederholt Befürchtungen bekannt, dass es in nächster Zeit durch Amnestierte zu verstärkten Versuchen des Grenzdurchbruchs kommen könne, wodurch die Unsicherheitsfaktoren und die Provokationsgefahr wieder zunehmen würden.

In mehreren Fällen stößt auch die Wiedereingliederung von Amnestierten in ihre ehemaligen Arbeitskollektive auf Ablehnung. So lehnten es Kollektive vom VEB Narva, Berlin, sowie Brigaden aus landwirtschaftlichen Betrieben ab, Haftentlassene aufzunehmen. Es werden Rückfallerscheinungen und stärkere gesellschaftliche Belastungen der Kollektive angenommen. Mehrfach stößt die Wiederaufnahme ehemaliger Arbeitskollegen in die »Brigaden der sozialistischen Arbeit« auf Ablehnung, weil sie den Verlust des Brigadetitels6 befürchten.

Unter fortschrittlichen Bürgern tritt mehrfach Unklarheit über die Einbeziehung politischer Straftäter in die Amnestie auf. Es werden Fragen gestellt, inwieweit Einschränkungen bei der Einbeziehung solcher politischer Vergehen vorgenommen werden, die langjährige Verurteilungen zur Folge hatten (z. B. Spionage). Außerdem besteht Unklarheit über die Einbeziehung von kriminellen Delikten, bei denen das staatliche Eigentum in hohem Maße geschädigt wurde. (Unterschlagung staatlicher Mittel, aber auch von Vietnamspenden7 usw.)

Darüber hinaus wird von diesen Personen angeführt, eine Bewährungszeit von drei Jahren sei zu gering, fünf Jahre seien vorteilhafter. Gleichzeitig wird die Forderung erhoben, diese Personen zu verpflichten, sich längere Zeit nach der Entlassung in regelmäßigen Abständen bei den zuständigen VP-Dienststellen zu melden.

Bei Mitarbeitern der Justizorgane, des MdI und besonders des Strafvollzuges tritt wiederholt Verwunderung über die Verwendung des Begriffs »politische Straftäter« in Erscheinung, nachdem in der Vergangenheit diese Kategorie mit unter den allgemeinen Begriff der Strafgefangenen gefallen sei. (In einigen StVA machen sich Tendenzen bemerkbar, wonach politische Straftäter nach dieser offiziellen »Kategorisierung« behaupten, dadurch eine Art »Sonderstellung« unter den Gefangenen einzunehmen.)

In Einzelfällen werden von Bürgern, die in der Vergangenheit in Ermittlungsverfahren als Zeugen auftraten, Bedenken geäußert, inwieweit sie eventuellen Repressalien seitens Amnestierter ausgesetzt seien.

Unter der wohnungssuchenden Bevölkerung verschiedener Bezirke tritt in letzter Zeit mehrfach Unruhe und Ungewissheit hinsichtlich der eventuellen Verlängerung der Wartezeit auf Wohnraum in Erscheinung. Einer Bevorzugung Amnestierter bei der Zuweisung von Wohnraum wird Unverständnis entgegengebracht.

Direkt ablehnende, abwertende und negative Äußerungen zur Amnestie werden nur vereinzelt bekannt. Sie sind offensichtlich mit auf eine Beeinflussung durch westliche Rundfunk- und Fernsehsendungen zurückzuführen.

  • Die DDR habe dem »internationalen Druck« nachgeben müssen.

  • Die Amnestie sei als Verdienst Brandts8 und seiner Regierung zu werten.

  • Die Strafvollzugsanstalten seien überfüllt.

  1. Zum nächsten Dokument Probleme mit Amnestiebeschluss und Familienzusammenführung

    Oktober 1972
    Hinweise auf Probleme, die im Zusammenhang mit der Realisierung des Amnestiebeschlusses des Staatsrates und der Maßnahmen zur Familienzusammenführung aufgetreten sind [Bericht K 2/35b]

  2. Zum vorherigen Dokument Versuchte Ausschleusung von Bürgern der DDR und VR Polen

    31. Oktober 1972
    Information Nr. 968/72 über versuchte Ausschleusung von Bürgern der DDR und der VR Polen nach der BRD und Westberlin