Direkt zum Seiteninhalt springen

Reaktionen auf Beschluss von ZK, FDGB und Ministerrat

Mai 1972
Reaktion der Bevölkerung der DDR auf den gemeinsamen Beschluss des ZK der SED, des FDGB-Bundesvorstandes und des Ministerrates der DDR [Bericht K 29]

Die beschlossenen Maßnahmen haben bei allen Teilen der Bevölkerung ein außerordentlich starkes Interesse gefunden. Sie stehen im Mittelpunkt vieler Gespräche und stellen einen absoluten Höhepunkt hinsichtlich des Umfangs der Diskussionen zu ZK-Plenen der letzten Zeit dar.1

Die umfangreichen sozialpolitischen Maßnahmen werden ausnahmslos mit großer Zustimmung aufgenommen.

In vielen Gesprächen wird betont, man habe nach den Ankündigungen des Genossen Honecker2 in Leipzig3 »Einiges erwartet«, sei jedoch jetzt vom Umfang der beschlossenen Maßnahmen überrascht, da sie alle Erwartungen übertroffen hätten.

Sofort nach Veröffentlichung des Beschlusses kam es in öffentlichen Verkehrsmitteln und an den Arbeitsplätzen zu regen Gesprächen, die in Brigadeversammlungen, Foren, Gewerkschaftsversammlungen, propagandistischen Veranstaltungen und anderen Zusammenkünften fortgesetzt wurden. Das überaus große Interesse der Bevölkerung und die Gesprächsfreudigkeit über Einzelheiten des Beschlusses halten gegenwärtig an. Es ist festzustellen, dass viele Bürger den in den Tageszeitungen veröffentlichten Beschluss aufbewahren und anhand dieser Ausschnitte den lebhaften Gedankenaustausch mit Arbeitskollegen und Bekannten fortsetzen.

Im Mittelpunkt dieser Gespräche stehen dabei immer wieder die Würdigung und Anerkennung des Beschlusses. Von vielen Bürgern, besonders von Arbeitern, wird anerkennend vermerkt, dass der FDGB neben der SED als Mitverfasser des Beschlusses in Erscheinung tritt.

Diese Funktion des FDGB als Vertretung der breiten Arbeiterschaft sei in dem letzten Jahrzehnt vernachlässigt worden und erfahre hierdurch eine Aufwertung. Gleichzeitig wird meist richtig die führende Rolle der SED bei der Ausarbeitung des Beschlusses hervorgehoben und betont, die SED würde dadurch große Autorität bei den Werktätigen gewinnen.

Typisch für viele Argumente ist, dass nicht nur die für den einzelnen wirksam werdenden sozialen Verbesserungen gesehen werden, sondern auch die politische Bedeutung dieser Maßnahmen betont wird.

Dabei wird erklärt, die Maßnahmen seien

  • Ergebnis der kontinuierlichen Politik der SED;

  • Beweis dafür, dass vom VIII. Parteitag keine leeren Versprechungen gemacht worden seien;4

  • Beweis, dass es mit dem wirtschaftlichen Aufbau in der DDR vorwärts gehe;

  • eine Anerkennung der Leistungen der Werktätigen in der DDR;

  • Beweis einer von Partei und Regierung durchgeführten Arbeiterpolitik;

  • Anerkennung für viele werktätige Frauen und Mütter.

Hervorgehoben wird häufig weiter, dass die Maßnahmen nur möglich seien in einem sozialistischen Staat. Mehrfach werden Vergleiche zu kapitalistischen Staaten, insbesondere zur BRD gezogen, wobei betont wird, dass dort keine Beispiele über ähnliche sozialpolitische Maßnahmen und über eine derartige »Arbeiterpolitik« angeführt werden könnten.

Aus der Hauptstadt sind eine Reihe Beispiele bekannt, wonach Bürger beabsichtigen, die entsprechenden Tageszeitungen der DDR mit dem Beschluss des 5. Plenums aufzubewahren, um sie während der zweiten Besuchsperiode für Westberliner Bürger ihren Verwandten und Bekannten zur Kenntnis zu geben. Von einer Reihe dieser Bürger, die zu Pfingsten Besuche empfangen, wird betont, dass der Beschluss für ihre Verwandten das beste Anschauungsmaterial sei, um zu beweisen, dass es in der DDR ständig Verbesserungen gibt.

Das 5. Plenum liefere den Beweis, dass die Regierung der DDR und die SED zusammen mit dem FDGB und den Blockparteien eine gemeinsame Politik zum Wohle der Werktätigen betreibe, im Gegensatz zur Bonner Regierung, die sich z. B. gegenwärtig gegenseitig »die Köpfe einschlage«.

Besondere Beachtung bei der Bevölkerung finden die Maßnahmen des Beschlusses hinsichtlich

  • der Rentenerhöhung,

  • der Einführung der 40-Stunden-Woche für voll berufstätige Mütter ab drei Kinder bis 16 Jahre,

  • der Erhöhung des Mindesturlaubes,

  • der Vergünstigungen für alleinstehende Mütter,

  • der Erhöhung des Wochenurlaubes,

  • der Erhöhung der Geburtenbeihilfe,

  • der großzügigen Kredite für junge Ehen,

  • der Neufestlegung der Neubaumieten bei Familieneinkommen bis 2 000 M auf 1966er-Niveau.

Neben den überwiegend positiven und zustimmenden Meinungsäußerungen gibt es jedoch in geringem Umfang Fragen oder auch skeptische Äußerungen.

Dabei zeichnen sich folgende Tendenzen ab:

  • Übernehmen wir uns mit den Maßnahmen nicht?

  • Woher kommen die finanziellen Mittel, und wenn sie vorhanden sind, für welche Zwecke wurden sie vorher verwandt?

  • Ist der Beschluss nur darauf aufgebaut, dass die finanziellen Aufwendungen durch Mehrleistungen infolge Verpflichtungen der Werktätigen gedeckt werden?

  • Solche Verpflichtungsbewegungen würden »im Sande verlaufen«, wie viele Bewegungen vorher.

  • Können wir das angegebene Niveau halten? Es gab in den vergangenen Jahren einige Rückschläge in der wirtschaftlichen Entwicklung. Wird diesen großzügigen Maßnahmen nicht etwa eine »Einengung« auf anderen Gebieten entgegengesetzt? (In Einzelfällen taucht das in letzter Zeit zurückgetretene Argument der »schleichenden Preiserhöhungen« wieder auf.)

  • In Spekulationen über die Herkunft der finanziellen Mittel für diese Maßnahmen wird in geringem Umfang erklärt, die Mittel

  • würden durch die Einnahmen während der Besuchszeiträume von Westberliner Bürgern gedeckt,5

  • seien durch die Zuführung halbstaatlicher Betriebe in Volkseigentum frei geworden.6

  • In geringem Umfang, aber in allen Bezirken auftretend, werden Befürchtungen geäußert, dass durch die großzügigen Kredite an junge Eheleute weitere Lücken im Warenangebot auftreten könnten. Es wird darauf verwiesen, dass bereits jetzt große Lücken im Angebot von Möbeln, Geschirr, Haushaltswäsche u. a. auftreten.

Vereinzelt werden Fragen gestellt, ob die Regierung über diese Engpässe informiert sei und ob Maßnahmen eingeleitet würden, die einer weiteren Vergrößerung der Mängel in diesem Sortiment entgegenwirken. Sonst würde der Zustand eintreten, dass die übrige Bevölkerung nichts mehr von diesen Artikeln zu kaufen bekäme.

  • Vereinzelt gibt es Anfragen, wer den Kredit zurückzahlt, wenn eine Ehe vor Ablauf der Rückzahlungsfrist geschieden wird.

  • Einzelne Personen äußern Bedenken dahingehend, dass die großzügigen Unterstützungsmaßnahmen für junge Eheleute die Arbeitsmoral und Disziplin bei einem Teil der Betroffenen beeinträchtigen könnte.

  • Weitere Fragen gibt es zu den Einzelheiten der Einweisung von Arbeitern in Neubauwohnungen:

  • Wer wählt den Kreis der Arbeiter, die Wohnungen erhalten, aus?

  • Wer bestimmt, welche Werktätigen zu den Arbeitern gehören, die vorrangig mit Wohnraum versorgt werden?

  • Hier müsste eine genauere Festlegung erfolgen.

  • Werden Angehörige der Intelligenz auch zu den Arbeitern gezählt, so ändert sich an der jetzigen Verteilung von Wohnraum überhaupt nichts.

  • Was wird aus den Wohnungsanträgen, die seit Jahren bei zuständigen Stellen laufen, deren Antragsteller jedoch nicht zu dem Kreis der Arbeiter gehören?

  • Wie erfolgt die Berechnung der Mieten für Neubauwohnungen? Welche Änderungen ergeben sich im Einzelnen und wann erfolgt Bescheid über die neue Summe? Auf welcher Basis erlangen die Wohnungsverwaltungen Kenntnis über das Familieneinkommen, und wer legt die Mieten neu fest bei Veränderung des Familieneinkommens?

  • Andere Fragen beinhalten Unklarheiten, ob sich aus den Sozialmaßnahmen auch Veränderungen im Lohnsteuersystem ergeben würden.

  • Unter Angehörigen der Intelligenz halten Unklarheiten über die zukünftige Rolle der Intelligenz in der DDR in geringem Umfang weiter an.

  • Es wird geäußert, dass auch aus dem neuen Beschluss hervorgehe, dass die Arbeiter immer mehr in den Vordergrund und die Intelligenz immer mehr in den Hintergrund gedrängt werde. »Fußnoten« zum Beschluss, wonach die Angehörigen der Intelligenz unter die Gehaltsempfänger fallen und damit zu den Angestellten und Werktätigen gehörten, würden nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie weiter »benachteiligt« würden. Es sei abzuwarten, ob dies auch bei der Wohnungsvergabe in Zukunft erfolgen werde.

Von den meisten Bürgern, bei denen Unklarheiten zur Auslegung der Maßnahmen auftraten, wird die Erwartung ausgesprochen, dass in allernächster Zeit entsprechende Durchführungsbestimmungen veröffentlicht werden, die Antworten auf entstandene Fragen geben werden.

Negative Meinungsäußerungen wurden nicht bekannt. Der dem MfS als negativ und feindlich bekannte Personenkreis verhält sich zu den Maßnahmen abwartend.

Neben den Diskussionen über die Einführung von sozialpolitischen Maßnahmen werden zurzeit vor allem noch folgende Probleme von der Bevölkerung diskutiert, die politisch-operativ zu beachten sind, aber nicht annähernd diesen Umfang erreichten:

  • Die Einführung der zeitweiligen Maßnahmen über den Reisezahlungsverkehr mit der ČSSR.7 (Darauf wird in einem gesonderten Bericht eingegangen.)8

  • Das Wahlergebnis über das Misstrauensvotum der CDU/CSU in Bonn.9

  • In diesem Zusammenhang wurde dem MfS bekannt, dass aus den verschiedenen Bezirken der DDR Briefe und Telegramme an Brandt10 abgesandt werden, die Glückwünsche und Sympathiebekundungen für ihn enthalten.

  • Bisher wurden vom MfS 18 solcher Schreiben festgestellt und eingezogen.

  • Eines dieser Schreiben trug den Absender: BBS IFA Nordhausen und war mit 25 Unterschriften versehen.

  • Die notwendigen operativen Maßnahmen wurden eingeleitet.

  1. Zum nächsten Dokument Stand der Beantragung von Einreisen (17.5.–24.5.) (2)

    8. Mai 1972
    2. Information Nr. 429/72 über die weitere Entwicklung der Antragstellung und den Stand der Bearbeitung der Anträge für die Einreise Westberliner Bürger in die DDR im Besuchszeitraum vom 17. bis 24. Mai 1972

  2. Zum vorherigen Dokument Stand der Beantragung von Einreisen (17.5.–24.5.) (1)

    4. Mai 1972
    1. Information Nr. 414/72 über den Anlauf der Antragstellung für die Einreise Westberliner Bürger in die DDR im Besuchszeitraum vom 17. bis 24. Mai 1972