Reaktionen auf Gesetzesentwurf zu Schwangerschaftsabbruch
28. Januar 1972
Information Nr. 85/72 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR auf den gemeinsamen Beschluss des Politbüros des ZK der SED und des Präsidiums des Ministerrates der DDR zur Ausarbeitung einer gesetzlichen Regelung über die Schwangerschaftsunterbrechung
Der genannte Beschluss wurde von einem großen Teil der Bevölkerung mit Zustimmung aufgenommen.1 Jedoch ist der Umfang der Diskussionen zu diesem Problem in den einzelnen Bezirken und Territorien unterschiedlich. Hauptsächlich werden Diskussionen unter Angehörigen der medizinischen Intelligenz und konfessionell gebundenen Personen geführt.
Begrüßt wird der Beschluss vor allem durch jüngere Frauen, Jugendliche, Arbeiter, Angestellte und Angehörige der wissenschaftlich-technischen Intelligenz. In ihren Diskussionen wird hervorgehoben, dass
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durch die vorgesehene Regelung die Rolle der Frau in der sozialistischen Gesellschaft weiter gestärkt und ihre volle Gleichberechtigung verwirklicht wird;
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viele Familien- und Eheprobleme damit gelöst, die Familienplanung besser geregelt und die Ehen stabilisiert werden;
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den illegalen Eingriffen vorgebeugt und auch die Verantwortlichkeit der Ärzte gesetzlich geregelt wird;
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die vorgesehene Verordnung sich günstig auf die persönliche und berufliche Entwicklung vieler junger Menschen auswirken wird.
Unter den genannten Personenkreisen gibt es nur unerhebliche Vorbehalte gegen die vorgesehene gesetzliche Regelung.
Es wird zum Ausdruck gebracht, dass unbedingt eine entsprechende Aufklärung der Bevölkerung über die Durchsetzung dieses Gesetzes erfolgen müsse.
Teilweise gab es Meinungen dahingehend, dass ein solches Gesetz schon eher hätte erarbeitet werden sollen.
Offen ablehnende Meinungen gibt es nur in Einzelfällen, hauptsächlich unter älteren Bürgern. Die wesentlichsten Argumente dabei sind:
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Entstandenes Leben dürfe nur im Notfall vernichtet werden;
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für Studierende sei diese Regelung verständlich, nicht aber für die Allgemeinheit;
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man müsse mit einem enormen Geburtenrückgang rechnen;
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es seien schädliche Folgen besonders für die Jugend zu erwarten (Unmoral).
In den Diskussionen der Bevölkerung kommen – neben der vorwiegend zustimmenden Resonanz – jedoch eine Vielzahl von Unklarheiten, Vorbehalten, skeptischen Äußerungen, Zweifeln an der Richtigkeit und Forderungen nach gewissen Einschränkungen zum Ausdruck, die sich wie folgt zusammenfassen lassen:
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Unklarheiten gibt es besonders zu der Frage, von wem die Kosten für die Schwangerschaftsunterbrechungen getragen werden sollen. Im Allgemeinen stand dies in Verbindung mit der Forderung, dass nicht die SVK, sondern die Patientinnen selbst die Kosten bzw. einen Teil davon tragen sollten oder dass eine Staffelung nach dem Einkommen vorgenommen werden sollte. Andererseits gab es auch Befürchtungen, dass Frauen mit niedrigerem Einkommen einen Eingriff nicht bezahlen könnten.
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Weiterhin bestehen Unklarheiten über die Arbeitsbefreiung nach einer Schwangerschaftsunterbrechung (u. a. wurde diskutiert, dass drei Tage Arbeitsbefreiung zu wenig seien) sowie über die Anzahl der möglichen Schwangerschaftsunterbrechungen.
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Es tauchte die Frage auf, ob sich die DDR aufgrund der Bevölkerungsproportionen überhaupt ein solches Gesetz leisten könne.
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Die angespannte Arbeitskräftesituation würde noch komplizierter werden.
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Das Gesetz sollte nicht zu großzügig gehandhabt werden (z. B. sollte es Beschränkungen bei Mädchen unter 18 Jahren oder kinderlosen Ehen geben, einer Schwangerschaftsunterbrechung sollte erst ab zweitem oder drittem Kind stattgegeben werden usw.).
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Es würden »freie Liebe« und die »Sexwelle«2 gefördert.
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Man müsse mit gesundheitlichen Schädigungen der Frauen rechnen und sollte lieber empfängnisverhütende Mittel großzügiger vertreiben.
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Die Entscheidung sollte nicht allein der Frau überlassen werden, sondern der Arzt müsse entscheidenden Einfluss ausüben. Wenn die Frau allein entscheide, sei auch die Gefahr von Ehekonflikten sehr groß.
In einigen Fällen gab es Diskussionen auch in der Richtung, als sei die Verordnung bereits beschlossen, »ohne mit der Bevölkerung darüber zu diskutieren« (Argument der Westsender).
Verschiedentlich wird zum Ausdruck gebracht, dass dieses Gesetz mit der Einführung des visafreien Verkehrs in die VR Polen und die ČSSR3 in Verbindung stehe, da dort und auch in anderen sozialistischen Ländern Schwangerschaftsunterbrechungen bereits seit längerer Zeit gesetzlich geregelt seien.4
Zur Reaktion von Ärzten, Krankenschwestern und Angehörigen des medizinisch-technischen Personals:
Überwiegend ist die Reaktion dieser Kreise in ihrer Differenziertheit vergleichbar mit der allgemeinen Reaktion der Bevölkerung, und die Argumente – sowohl in positiver als in skeptischer, Beschränkungen fordernder Hinsicht – gleichen sich. Das trifft z. B. zu auf die Frage der Kosten und einer altersmäßigen Differenzierung. Zusätzlich gab es folgende Diskussionen mit speziellem Bezug auf den Bereich des Gesundheitswesens:
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Die Voraussetzungen für die praktische Durchsetzung seien nicht gegeben. Besondere Probleme würden sich im Zusammenhang mit der schon geringen Betten- und Personalkapazität und dem Bedarf an bestimmten medizinischen Artikeln ergeben.
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Es würden hohe Kosten entstehen, und andererseits würden manche Frauen auf die kostenpflichtige Einnahme des »Ovosiston«5 verzichten. In vielen Fällen kommt zum Ausdruck, dass die Patientinnen einen Teil oder die gesamten Kosten tragen sollten. (Dem MfS wurde in diesem Zusammenhang bekannt, dass die Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen des Rates des Bezirkes Cottbus orientierte, über das Kostenproblem nicht zu diskutieren und die kostenlose Durchführung der Schwangerschaftsunterbrechungen als gegeben zu betrachten. Weiter wurde bekannt, dass der Bezirksgynäkologe des Bezirkes Halle die Universitätsklinik Halle anwies, bereits jetzt mit den Schwangerschaftsunterbrechungen zu beginnen. Die Kosten würde die SVK tragen.) Auf der anderen Seite gab es teilweise Meinungen, dass die Kosten sich denen angleichen, die bisher entstanden, wenn Frauen nach einem missglückten illegalen Eingriff behandelt werden mussten.
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Es müsse mit einem starken Anstieg der Anträge auf Schwangerschaftsunterbrechungen gerechnet werden. (Sofort nach Veröffentlichung des Beschlusses stieg die Zahl der Antragstellerinnen um ein Vielfaches. Darunter befanden sich zahlreiche Mädchen unter 18 Jahren und Frauen, die noch kein Kind geboren hatten.)
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Hautärzte befürchten eine Zunahme von Geschlechtskrankheiten.
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Es wird zum Ausdruck gebracht, dass die Rolle der Schwangerschaftsverhütung mehr betont und die Schwangerschaftsunterbrechung nur als Notlösung betrachtet werden sollte. Durch die Freigabe der Verhütungsmedikamente wäre eventuell eine bessere Lösung erreicht worden.
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Bedenken gibt es, besonders bei Gynäkologen, in Bezug auf zu erwartende Komplikationen (bei mindestens 10 bis 15 % der Frauen), Todesfälle bzw. mögliche Sterilität, besonders bei Mädchen unter 18 Jahren.
Von einer Reihe von Ärzten wird in diesem Zusammenhang die Forderung nach Zusatzbestimmungen erhoben. So müsste u. a. folgendes geregelt werden:
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Rechtsschutz für die Frauen,
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Registrierung der Unterbrechungen im SVK-Ausweis,
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Festlegung von Maßnahmen gegen den Missbrauch des Gesetzes,
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Bestimmung über die Unterbrechung der ersten Schwangerschaft nur bei triftigen Gründen,
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Begrenzung der Gesamtzahl der Schwangerschaftsunterbrechungen und der zeitlichen Intervalle (z. B. einmal im Jahr),
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klare Entscheidung über die rechtliche Stellung und Verantwortlichkeit bei Mädchen unter 18 Jahren.
Insgesamt muss zu diesem Personenkreis eingeschätzt werden, dass es doch recht unterschiedliche Meinungen und – neben der Zustimmung durch einen großen Teil – auch viele ablehnende Stimmen gibt. So wurde u. a. von Ärzten geäußert, dass dieses Gesetz das Ansehen des Gesundheitswesens der DDR herabwürdigen würde und dass der ärztliche Eid – ähnlich wie in der UdSSR – geändert werden müsste.6
Mit Berufung auf den hippokratischen Eid lehnten einige Ärzte ab, Schwangerschaftsunterbrechungen durchzuführen bzw. wiesen ihnen unterstellte Ärzte an, dies ebenfalls nicht zu tun.
Reaktion unter konfessionell gebundenen Ärzten, Krankenschwestern und Angehörigen des medizinisch-technischen Personals:
Unter diesen Kreisen – besonders katholischen – gibt es teilweise ausgesprochen ablehnende und negative Meinungen. Die vorgesehene Regelung sei unvereinbar mit ihrem Glauben, sei ein Verbrechen gegen das Leben und richte sich gegen die Moral und gegen die Gesundheit der Frauen. In wenigen Einzelfällen wurde in diesem Zusammenhang geäußert, dass man sich schon im Nazireich gegen eine solche Maßnahme gewehrt habe und heute noch der gleichen Meinung sei.7
Auch von evangelischen Ärzten gab es Meinungen in der Richtung, dass man eine Schwangerschaftsunterbrechung nur aus Gründen rein medizinischer Indikation durchführen dürfe.
Es muss – im Zusammenhang mit der Erklärung der katholischen Kirchenleitung – damit gerechnet werden, dass es Komplikationen in kirchlichen Krankenhäusern (in denen auch konfessionslose Ärzte und Schwestern arbeiten und jeder Bürger behandelt werden kann) geben wird oder konfessionell gebundene Ärzte und Schwestern sich weigern werden, an Schwangerschaftsunterbrechungen mitzuwirken bzw. im Alternativfall ihr Arbeitsverhältnis lösen werden.
Zur Reaktion konfessionell gebundener Bürger:
Zur Reaktion von Bürgern mit evangelischem Glauben liegen zurzeit sehr wenige Meinungen vor. Auch die evangelischen Pfarrer nehmen noch eine zurückhaltende und abwartende Haltung ein. Dies steht offensichtlich damit in Zusammenhang, dass bisher die Stellungnahme vonseiten der evangelischen Kirchenleitung noch nicht in dem Maße verbreitet wurde. Vereinzelt sprachen sich evangelische Pfarrer für das Gesetz aus, da es der illegalen Abtreibung Einhalt gebieten würde.
Andererseits gibt es auch Ablehnung vonseiten dieser Kreise mit der Begründung, dass das Gesetz gegen die Kirche, gegen die Gesundheit und die Natur gerichtet sei.
Die Meinung katholischer Bürger bilden den weitaus größten Anteil der bisher vorliegenden Diskussionen konfessionell gebundener Bürger. Dabei ist der Einfluss der am 9.1.1972 erfolgten Kanzelabkündigung unverkennbar.8
Im Sinne der dort verlesenen Erklärung der katholischen Bischöfe äußern sich auch die katholischen Geistlichen. Sie bringen ihre Enttäuschung über den Beschluss zum Ausdruck und argumentieren, dass Abtreibungen »teuflische Verbrechen«9 seien, dem 5. Gebot10 widersprechen und sich gegen [die] Freiheit des Menschen und [die] Menschenwürde richten würden. In diesem Sinne seien sie ein Verfassungsbruch und antihuman. Die katholischen Pfarrer schließen sich zum größten Teil der Meinung der Bischöfe an. In einigen Fällen wurde die Erklärung kommentarlos von den katholischen Pfarrern verlesen, zum großen Teil war die Verlesung jedoch mit Aufrufen verbunden, sich gegen die vorgesehene Regelung auszusprechen und Protestschreiben an die Regierung zu senden. Katholische Mediziner wurden angesprochen, Schwangerschaftsunterbrechungen abzulehnen und selbst nicht durchzuführen.
Es kann eingeschätzt werden, dass die katholischen Bürger durch diese Kanzelabkündigung in ihren Vorurteilen und Vorbehalten bzw. ablehnenden Meinungen gegenüber dem vorgesehenen Gesetz in starkem Maße bestärkt wurden. Dementsprechend wird von ihnen auch in folgenden Richtungen argumentiert:
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Für katholische Bürger sei eine solche Verordnung nicht gültig, da sie unvereinbar mit dem katholischen Glauben sowie mit Moral und Ethik sei und ein Verbrechen gegen das Leben darstelle.
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Die Frau sei durch eine solche Regelung der Willkür des Mannes ausgeliefert. Die Regelung stehe im Widerspruch zum Rückgang der Geburtenziffern in der DDR und werde nur erlassen, um der großen Dunkelziffer von Abtreibungen zu begegnen.
Unter den katholischen Bürgern ist lediglich unter Jugendlichen (besonders Studenten), Jungverheirateten und kinderreichen Familien eine gewisse Zustimmung zu dem Beschluss zu erkennen. In kinderreichen Familien wurde z. B. geäußert, dass die Priester in diesen Fragen gar nicht mitreden und mitempfinden könnten. Jugendliche und Jungverheiratete lassen »bestimmte positive Züge der Regelung« gelten.
Weitere Meinungen katholischer Bürger befürworten eine solche Regelung nur bei Gefahren für die Gesundheit der Frauen oder für kinderreiche Familien.
Unter CDU-Mitgliedern wird das Problem im großen Umfang diskutiert, wobei es relativ viele ablehnende Meinungen zu dem vorgesehenen Gesetz aus ethisch-religiösen Motiven heraus gibt.
Dem MfS wurde ferner bekannt, dass es im Hauptvorstand der CDU unterschiedliche Meinungen zu dem vorgesehenen Gesetz gibt. Es wird u. a. die Meinung vertreten, dass mit Widerstand vonseiten der Kirche zu rechnen ist. Weiterhin wurde zum Ausdruck gebracht, dass bei der Verabschiedung des Gesetzes in der Volkskammer wahrscheinlich die Hälfte der Fraktionsmitglieder »krank« sein werde oder die Fraktion sich der Stimme enthalten müsste.
Am 11.1.1972 fand eine Präsidiumssitzung statt, auf der über das bevorstehende Gesetz und seine Verabschiedung beraten wurde. Max Sefrin,11 der die Diskussion leitete, wobei seine Argumentation jedoch als »schwach« eingeschätzt wurde, versuchte eine Stellungnahme der Präsidiumsmitglieder in Bezug auf die Verabschiedung des Gesetzes zu erhalten. Dabei sprachen sich die Präsidiumsmitglieder Kind12 und Wünschmann13 gegen das Gesetz aus. Die Mitglieder Fischer,14 Flint15 und Höhn16 enthielten sich der Stimme.
Im Ergebnis der Diskussion wurden durch das Präsidium folgende Festlegungen getroffen:
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Das Präsidiumsmitglied der CDU, Heyl, Wolfgang17 bekam den Auftrag, im ZK der SED vorzusprechen, um zu erreichen, dass keine Versetzungen katholischer Ärzte in Tätigkeitsbereiche vorgenommen werden, die mit diesem Gesetz im Zusammenhang stehen.
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Der Sekretär des Hauptvorstandes Kalb18 wurde beauftragt, dazu für die CDU eine Argumentation zu erarbeiten.
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Vor der Volkskammersitzung zur Verabschiedung des Gesetzes wird eine Sondersitzung der CDU-Fraktion stattfinden.
In CDU-Mitgliederkreisen wird diskutiert, dass die Veröffentlichung des Beschlusses ohne ausreichende Begründung des Problems erfolgt sei.
Weiterhin wird die Frage aufgeworfen, ob man Westdeutschland zuvorkommen wolle, da dort seit längerer Zeit erfolglos für das gleiche Problem diskutiert würde. Es wurden Spekulationen geäußert, dass die CDU mithilfe des vorgesehenen Gesetzes in ihrer Wirksamkeit geschwächt und indirekt gezwungen werden solle, Positionen im Staatsapparat zugunsten der SED aufzugeben. Die CDU befände sich als Partei in einer misslichen Lage. Bei einer Zustimmung zu dem vorgesehenen Gesetz in der Volkskammer würde es zu massierten Parteiaustritten kommen, und die CDU würde die wenigen Kontakte zur Kirche verlieren. Wenn sich die CDU gegen das Gesetz stellen würde, würde sie sich damit gegen die Blockpolitik stellen und unübersehbare politische Folgen heraufbeschwören.