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Reaktionen der Bevölkerung der DDR zu Bundestagswahlen

21. November 1972
Erste Reaktionen der Bevölkerung der DDR zum Ausgang der Bundestagswahlen am 19. November 1972 [Bericht K 34a]

Gegenwärtig liegen Ersteinschätzungen von acht Bezirken vor, sodass bisher keine umfassende Darstellung der Reaktionen der Bevölkerung der DDR zum Ausgang der Bundestagswahlen am 19.11.1972 gegeben werden kann.1

In den vorliegenden Einschätzungen wird betont, dass die Bundestagswahlen in der BRD bei den Bürgern der DDR großes Interesse hervorriefen. Unmittelbar vor dem 19.11. wurde von vielen Bürgern betont, sie wären sehr gespannt auf das Wahlergebnis. Dabei wurde mehrfach von ihnen hervorgehoben, der Ausgang der Wahlen werde großen Einfluss auf die weitere politische Entwicklung in Europa und in Deutschland nehmen.

In einer Reihe von Beispielen wird nachgewiesen, dass sich das Interesse von Bürgern der DDR am Verlauf und Ausgang der Bundestagswahlen, aber auch im aktiven Abhören von Kommentaren westlicher Rundfunk- und Fernsehstationen besonders in den Abendstunden des 19.11. ausdrückte, um möglichst schnell informiert zu sein.

Nach den vorliegenden Informationen zeichnet sich die Tendenz ab, wonach der von der SPD/FDP errungene Wahlsieg überwiegend begrüßt wird.

Mehrfach wird mit Genugtuung der von der SPD/FDP erzielte Stimmengewinn im Verhältnis zu den letzten Bundestagswahlen von 1969 vermerkt. Dabei wird erklärt, ein derart deutlicher Sieg der SPD/FDP wäre nicht erwartet worden.2

Typisch ist, dass der Wahlsieg der SPD/FDP auf deren realistischere Politik und die Einleitung eines Prozesses der sachlichen Beziehungen mit den sozialistischen Ländern zurückgeführt wird.3

Hervorgehoben wird, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung der BRD für Entspannung in Europa und für die Erhaltung des Friedens ausgesprochen habe.

In einigen Fällen wird in diesem Zusammenhang festgestellt, dass der »westdeutsche Durchschnittsbürger« durch den Wahlkampf in der BRD gezwungen gewesen sei, aus seiner politischen Passivität herauszutreten und durch seine Stimme eine politische Haltung einzunehmen.

Weitere Argumente, in denen der Wahlausgang begrüßt wird, und in denen Schlussfolgerungen hinsichtlich der weiteren Politik der SPD/FDP-Regierung sowie der weiteren Gestaltung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten gezogen werden, beinhalten im Wesentlichen:

  • Die Bemühungen beider deutscher Staaten um Entspannung in Europa finden ihren Ausdruck im Wahlausgang.

  • Der Abschluss der Verträge der sozialistischen Staaten mit der BRD habe zu diesem Wahlausgang beigetragen.4

  • Mit dem Wahlausgang seien alle Hindernisse aus dem Wege geräumt, die einer Unterzeichnung des vorliegenden Vertrages über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD entgegenstehen. Damit werde der »Grundvertrag«5 ein neuer wesentlicher Schritt zur Verbesserung der Lage in Europa.

  • Es sei abzusehen, dass die BRD und die DDR als gleichberechtigte Mitglieder in die UNO6 aufgenommen werden.

Neben diesen Argumenten, in denen aus politischen Erwägungen heraus das Wahlergebnis begrüßt wird, liegen aber auch eine Reihe Meinungsäußerungen vor, in denen der Wahlsieg Brandts7 vordergründig aus persönlichen Motiven heraus begrüßt wird. In diesen Diskussionen wird zum Ausdruck gebracht, durch die Entspannungspolitik Brandts erhoffe man sich weitere »menschliche Erleichterungen«. Dabei wird auf die im Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD, Artikel 7,8 vorgesehene Zusammenarbeit auf den verschiedensten Gebieten verwiesen und gleichzeitig erklärt, man erhoffe eine Konkretisierung und Erweiterung dieser Festlegungen. Insbesondere hoffe man, dass es zu weiteren Erleichterungen im Reiseverkehr mit der BRD komme.

In zahlreichen bekannt gewordenen Äußerungen ist – häufig auch im Zusammenhang mit der Begrüßung des Wahlausgangs im Allgemeinen – eine deutliche Aufwertung der Person Brandts und der Politik der SPD zu erkennen.

Dabei werden besonders Brandt große Verdienste bei der Einleitung einer Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten zugeschrieben.

(Diese Auffassungen spiegelten sich u. a. auch in vereinzelten Trinksprüchen von Gästen in öffentlichen Gaststätten und in Gesprächen in öffentlichen Verkehrsmitteln wider.)

Es wird betont, der Wahlsieg Brandts sei sein persönlicher Verdienst und sei u. a. auf seinen persönlichen Einsatz zur Erhaltung des Friedens und zur Schaffung »menschlicher Erleichterungen« zurückzuführen.

Die Wiederwahl Brandts sei eine Garantie für die Fortsetzung der Entspannung. Die »Ostpolitik« Brandts gehe in die Geschichte ein; Brandt und seine Wähler hätten »Friedensgeschichte« gemacht. Die Politik der SPD sei besonders lebensnah und arbeiterfreundlich.

Vereinzelt werden Äußerungen Brandts (entnommen aus westlichen Rundfunkkommentaren) wiedergegeben, wonach der Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD auf Betreiben der SPD noch im Dezember 1972 in der Hauptstadt der DDR unterzeichnet werden solle.9 Bei Begrüßung dieser Maßnahmen wurde in diesem Zusammenhang in Einzelfällen die Absicht geäußert, Brandt bei Unterzeichnung des Vertrages in der Hauptstadt »zuzujubeln« (Potsdam).

In weiteren Einzelfällen wurde dem MfS bekannt, dass einige Bürger der DDR an Bundeskanzler Brandt Telegramme mit Glückwünschen zum Wahlsieg richteten (Frankfurt/Oder bzw. Leipzig).

  1. Zum nächsten Dokument Ursachen des Großbrandes am U-Bahnhof Alexanderplatz

    22. November 1972
    Information Nr. 1074/72 über die Ursachen des Großbrandes auf der U-Bahnlinie A im Bereich des U-Bahn-Bahnhofes Alexanderplatz am 4. Oktober 1972

  2. Zum vorherigen Dokument Politisch-operative Lage bei Amnestiebeschluss

    20. November 1972
    Hinweise über die politisch-operative Lage im Zusammenhang mit der Realisierung des Amnestiebeschlusses [Bericht K 2/34]