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Reaktionen von Komplementären auf Beschluss der 4. ZK-Tagung

17. Februar 1972
Information Nr. 152/72 über Reaktionen und Verhaltensweisen von Komplementären, Besitzern von Privatbetrieben und Funktionären befreundeter Parteien im Zusammenhang mit dem Beschluss der 4. Tagung des ZK der SED

Bereits nach dem VIII. Parteitag1 gab es in Einzelfällen Feststellungen, dass bei den Beratungen es »keine speziellen Aussagen« über die Rolle und Perspektiven der BSB und PGH einschließlich der Privatbetriebe gegeben hätte. Vor allem Komplementäre und Leitungskräfte aus PGH, aber auch in BSE und PGH tätige Arbeiter brachten damals sinngemäß zum Ausdruck, dass »offenbar ein Wandel in der Mittelstandspolitik der SED eingetreten sei« bzw. »die DDR jetzt die BSB und PGH nicht mehr in dem Maße brauche, wie in den Vorjahren«.

In den letzten Wochen, vor allem nach der 4. Tagung des ZK der SED2 wurden dem MfS in zunehmendem Umfang Informationen über Stellungnahmen von Komplementären, Besitzern von Privatbetrieben und Funktionären befreundeter Parteien zu diesem Problem, insbesondere zu nicht veröffentlichten Materialien der 4. Tagung des ZK der SED hinsichtlich des weiteren Vorgehens im Zusammenhang mit halbstaatlichen und Privatbetrieben3 sowie über die Aussprache des Ersten Sekretärs der SED, Genossen Erich Honecker,4 mit den Vorsitzenden der befreundeten Parteien am 13.1.1972 bekannt.5

Der Inhalt der vorliegenden Meinungsäußerungen deutet darauf hin, dass insbesondere in Kreisen der befreundeten Parteien bzw. ihnen nahestehender Komplementäre und Besitzer von Privatbetrieben Kenntnisse über interne Dokumente der 4. Tagung des ZK der SED sowie auch über eine Beratung mit den Bezirksvorsitzenden der CDU Mitte Januar 1972 im Schulungsobjekt der CDU in Grünheide bei Erkner vorhanden sind.6

Dr. Naumann,7 Sekretär für Wirtschaft im Hauptvorstand der CDU, erklärte während der Beratung in einem Vortrag am 12.1.1972, dass die Hauptrichtung der weiteren Entwicklung auf einem Aufkauf der halbstaatlichen Betriebe durch die VE–Industrie gerichtet sei, um das Volumen des privaten Anteils an der Gesamtwirtschaft immer weiter zu verringern.

Diese Maßnahme würde in der nächsten Zeit zügig durchgeführt und eine Reihe von Problemen mit sich bringen. Seine Auffassung sei jedoch, sich vorerst auf die älteren Komplementäre zu konzentrieren, da sie aus diesem Grund ihre Betriebe sowieso nicht mehr lange leiten könnten.

Die Entwicklung sei mit sanften Druck nach und nach voranzutreiben. Die gesamten Umstellungen sind jedoch nicht mit »Krach« zu vollziehen.

Nach Meinung einiger Tagungsteilnehmer sei mit dem Begriff »führende Rolle der Arbeiterklasse« eine klare Abgrenzung der Arbeiterklasse von allen anderen Schichten der Bevölkerung vorgenommen worden. Diese Tatsache würde auch eine Einengung des Wirkungsbereiches der Blockparteien mit sich bringen.

Vereinzelt wurde in diesem Zusammenhang die Frage nach der Rolle der CDU in der DDR und ihre zukünftige Existenzberechtigung in der neuen Entwicklungsphase der DDR aufgeworfen.

Nach Hinweisen aus Kreisen der LDPD habe der Vorsitzende der LDPD, Dr. Manfred Gerlach,8 die Bezirksvorsitzenden der LDPD auf der Grundlage des Gesprächs, welches der Erste Sekretär des ZK der SED, Genosse Erich Honecker, mit den Vorsitzenden der befreundeten Parteien am 13.1.1972, führte, informiert und darauf orientiert, Komplementäre von Betrieben mit staatlicher Beteiligung und Besitzer von Privatbetrieben, die Mitglied er der LDPD sind, auszuwählen, die auf dem bevorstehenden Parteitag der LDPD in Weimar9 bereit sind, den Antrag zu stellen, ihre Betriebe an den Staat verkaufen zu wollen.

Als erste negative Reaktion muss das Verhalten der Delegierten zum 11. Parteitag der LDPD,

  • Komplementär Chrestensen,10 Gärtnerei und Samenzucht Erfurt,11 Mitglied des Bezirksvorstandes der LDPD Erfurt und

  • Komplementär Schüler,12 Mühlhausen, [Bezirk] Erfurt – Strickwarenherstellung13

angesehen werden. Beide haben ihre Delegiertenkarten zum LDPD-Parteitag zurückgegeben mit der Begründung, aus Zeitgründen nicht am Parteitag teilnehmen zu können.

Weiterhin liegen dem Zentralvorstand der LDPD eine Reihe von Hinweisen über eine erhebliche Unruhe unter vielen Komplementären in vielen Bezirken der DDR über die Perspektive ihrer Betriebe und über ihre eigene Perspektive vor.

Auffassungen von zahlreichen Komplementären, dass ihre Betriebe liquidiert werden sollen, leiten sie aus den unterschiedlichsten Informationen ab, z. B. aus

  • Gesprächen mit Berufskollegen,

  • Änderung im Verhalten einiger wirtschaftsleitender Organe,

  • Gesprächen mit Genossen der in ihren Betrieben bestehenden Betriebsparteiorganisationen,

  • Sekretariatssitzungen von Kreisausschüssen der Nationalen Front.14

Die Übernahme von ca. 200 Betrieben mit staatlicher Beteiligung, die keinen privaten Gesellschafter mehr haben, in Volkseigentum zum 31.12.1971, habe die Diskussion mit ausgelöst.15

Im Zusammenhang mit den bekannt gewordenen Meinungsäußerungen aus den Kreisen der Komplementäre und Mitglieder befreundeter Parteien liegen auch solche Informationen vor, die besagen, dass im Wirtschaftsrat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt16 Beratungen und Besprechungen durchgeführt wurden, in denen über Veränderungen im Bereich der halbstaatlichen Industrie diskutiert wurde. Dabei sei auch parteiinternes Material der 4. Tagung des ZK behandelt worden.

So wurde beispielsweise in einer Beratung am 12.1.1972 im Bezirkswirtschaftsrat, die vom 1. Stellvertreter des Vorsitzenden, Genossen Findewirth,17 geleitet wurde und an der ein größerer Kreis leitender Funktionäre des Wirtschaftsrates teilnahm, zu dieser Problematik gesprochen. Dabei wurde unter anderem sinngemäß angeführt, dass Überlegungen angestellt werden sollten, wie die halbstaatlichen Betriebe in Volkseigentum überführt werden können. Dabei sei es notwendig zu prüfen, wie die Betriebe mit staatlicher Beteiligung, Privatbetriebe und PGH systematisch zu volkseigenen Betrieben entwickelt werden könnten. Ausgehend von dieser Beratung fanden in den Industrieabteilungen wiederum Auswertungen statt, an denen unter anderem auch Mitglieder befreundeter Parteien teilnahmen. Dadurch wurde offensichtlich parteiinternes Material der 4. Tagung des ZK der SED auch in diesen Kreisen bekannt.

Die aus Kreisen von Komplementären sowie Besitzern privater Betriebe darüber hinaus vorliegenden Informationen beziehen sich im Wesentlichen auf folgende Probleme:

Sowohl die verschiedenen Gespräche der Führung der SED als auch der Verlauf der letzten ZK-Tagungen müssten zu denken geben.

Sie würden bei vielen Komplementären das Gefühl aufkommen lassen, dass der Staat gar nicht mehr so an den Betrieben mit staatlicher Beteiligung interessiert sei.

Früher habe man nach ZK-Tagungen oft über die Verantwortung der halbstaatlichen Betriebe lesen können, das sei jetzt nicht mehr der Fall. Offensichtlich seien Maßnahmen besprochen worden, auf deren Grundlage die Betriebe mit staatlicher Beteiligung bald »verschwinden« würden.

In verschiedenen Äußerungen wird zum Ausdruck gebracht, dass man die Betriebe mit staatlicher Beteiligung offensichtlich nicht mehr für vertrauenswürdig genug halte. Bei der Abgabe der Bereitschaft, halbstaatlicher Betrieb zu werden, sei vom Staat erklärt worden, dass zu Lebzeiten ihre Eigentumsform unangetastet bleiben würde und die Erbnachfolge absolut gesichert wäre. Aufgrund dieser Versicherung hätten sie sich für den halbstaatlichen Betrieb entschieden. Da jetzt ihrer Auffassung nach diese Zusicherungen vom Staat nicht aufrechterhalten würden, werten sie dieses als Vertrauensbruch. Sie könnten sich deshalb nicht sofort entscheiden, den weiteren Schritt (Eingliederung in die volkseigene Wirtschaft) mitzugehen.

Neben der Kenntnisnahme der geplanten sozialökonomischen Maßnahmen in Kreisen der Komplementäre und Besitzer von Privatbetrieben, einschließlich der dabei geäußerten Unsicherheiten für die Perspektive, wird auch in spekulativer Absicht zum Ausdruck gebracht, »alles wird sich schließlich wieder normalisieren; die verstärkte Verstaatlichung wird nur ein momentaner politischer Aspekt sein«.

Wenn Partei und Regierung derartige Maßnahmen vorhätten, dann solle man wenigstens »human« vorgehen und die Probleme Schritt für Schritt mit allen Beteiligten besprechen. Wenn man schon eine »voll sozialistische Wirtschaft« wolle, soll das »offen und ehrlich« gesagt werden. Etwaige »Überrumpelungen« würden zu nichts führen und auch in Westdeutschland und im Ausland Anstoß erregen. Dadurch könne unser Staat nur an Ansehen verlieren.

Man könne sich des Gedankens nicht erwehren, dass man jetzt plötzlich wieder »Kapitalist« und nicht mehr »sozialistischer Werktätiger« sei.

Das spüre man insbesondere auch daran, dass leitende Genossen von Partei und Regierung in ihren Ansprachen immer nur von den Leistungen der Arbeiterklasse und der Intelligenz sprächen. Es entstände dadurch auch der Eindruck, gar nicht mehr voll in die Erfüllung der wirtschaftlichen Aufgaben einbezogen zu werden.

Die Hervorhebung der Verdienste der Arbeiterklasse könne allerdings auch dazu dienen, mehr »Zuspruch für die Politik von Partei und Regierung zu bekommen, und mit einer solchen Stütze im Rücken könne auch zu ernsthaften Schritten gegen Komplementäre und Privatbesitzern vorgegangen werden. Um die Fronten zu klären, solle der Staat gleich alles wegnehmen«.

Partei und Regierung sollten sich ihre Maßnahmen »genau überlegen«. Schon einmal, nämlich im Jahre 1953, sei ein »harter Kurs« gegen die Privatindustrie gefahren worden.18 Nach kurzer Zeit hätte er aber wieder revidiert werden müssen.

Die gesamte halbstaatliche und private Wirtschaft habe genügend unter Beweis gestellt, zu welchen Leistungen sie fähig sei. Auf diese Leistungen könne in der gegenwärtigen ökonomischen Situation niemand verzichten. Die volkseigene Industrie solle erst einmal das Gleiche vollbringen. Es gelte jetzt, »unauffällig« mitzuarbeiten, denn in spätestens vier Jahren würde sich die Politik von Partei und Regierung gegenüber dem privaten Sektor wieder ändern.

Bis zu diesem Zeitpunkt läge die DDR-Wirtschaft »völlig am Boden« und man wäre froh, wenn die Komplementäre und Privatbesitzer ihre »Unterstützung« zusagen würden, um wieder »in die Höhe« zu kommen.

In diesem Zusammenhang – so wird vereinzelt spekuliert – könnten auch die Bestrebungen der EWG,19 speziell über die skandinavischen Länder Einfluss auf die sozialistischen Staaten zu erhalten, für den noch bestehenden privaten Sektor in der Wirtschaft der DDR die Situation verbessern.

Vereinzelt tauchten auch solche Meinungen auf, wonach Komplementäre – aber auch Handwerker – an den zu erwartenden Maßnahmen von Partei und Regierung »selbst schuld seien, da sie ihren oftmals sehr hohen Lebensstandard zu offen zur Schau stellten. So etwas müsse dem Staat doch auffallen«.

Im Übrigen solle sich der Staat viel mehr mit den Handwerkern »beschäftigen«, denn das seien »die Millionäre im Staat«.

  1. Zum nächsten Dokument Auftreten eines Bischofs vor Predigerseminar Naumburg

    18. Februar 1972
    Information Nr. 151/72 über das Auftreten von Bischof Fränkel, Görlitz, vor Studenten des Predigerseminars Naumburg Anfang Januar 1972

  2. Zum vorherigen Dokument Haltung eines Bischofs zu Zielen der »Berliner Konferenz«

    17. Februar 1972
    Information Nr. 147/72 über die Haltung des katholischen Bischofs Braun zu Fragen des Eintretens für die Ziele der »Berliner Konferenz« und zu Fragen der europäischen Sicherheit