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Reaktionen zur BRD-Regierungspolitik nach Bundestagswahl

5. Dezember 1972
Information Nr. 1100/72 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR zur Politik der Brandt/Scheel­Regierung im Zusammenhang mit dem Ergebnis der Bundestagswahl vom 19. November 1972

Aus dem MfS vorliegenden Hinweisen über Reaktionen und Stimmungstendenzen der Bevölkerung der DDR geht hervor, dass ein großer Teil der Bürger in den letzten Monaten – zunehmend etwa ab Anfang Oktober 1972 – die politische Entwicklung in der BRD mit großem Interesse verfolgt hat.

Das Interesse richtete sich besonders auf solche entscheidenden Übereinkommen wie die Verträge zwischen der UdSSR1 und der VR Polen2 mit der BRD, auf die Verhandlungen zwischen der DDR und der BRD und solche Ergebnisse wie das Transitabkommen,3 die Vereinbarung mit dem Senat von Westberlin,4 den Verkehrsvertrag5 und die Paraphierung des Vertrages über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD.6

Die Bundestagswahlen7 in der BRD wurden mit großem Interesse verfolgt, wobei von breiten Bevölkerungskreisen betont wurde, der Ausgang der Wahlen würde großen Einfluss auf die weitere politische Entwicklung in Europa und auf das Verhältnis zwischen beiden deutschen Staaten nehmen.

Für die Äußerungen über politische Ereignisse ist in den letzten Monaten typisch, dass häufig verschiedene Probleme (z. B. Transitabkommen, Verkehrsvertrag, »Grundvertrag« usw.) im Zusammenhang diskutiert und als politische Einheit betrachtet werden. Auch die Diskussionen zum Wahlausgang in der BRD waren häufig Bestandteil von Äußerungen über die verschiedensten politischen Ereignisse der letzten Zeit.

Im Mittelpunkt aller politischen Gespräche standen die politische Entwicklung in der BRD und die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten. Dabei wird vom größten Teil der sich äußernden Bürger hervorgehoben, dass

  • die Friedenspolitik der Sowjetunion und aller sozialistischen Staaten sowie ihr konstruktives Zusammenwirken,

  • die konsequente Verwirklichung der auf dem VIII. Parteitag der SED8 gegebenen Orientierung auch auf außenpolitischem Gebiet

zu den erreichten Fortschritten in der Normalisierung der Lage in Europa und zur Verbesserung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten beigetragen haben. Durch die auf die Erhaltung des Friedens gerichtete reale Politik der sozialistischen Staaten, insbesondere der DDR, sei die SPD/FDP-Regierung gezwungen worden, bestimmte Zugeständnisse zu machen und auf unsere Vorschläge einzugehen.

Hervorgehoben wird gleichzeitig, dass der in den letzten Jahren zu erkennende Realismus in der Beurteilung der Lage durch die BRD-Regierung ursächlich im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Entwicklung steht.

Der von der SPD/FDP errungene Wahlsieg wurde von der Bevölkerung der DDR überwiegend begrüßt.9 Dabei wurde häufig erklärt, dass ein derart deutlicher Sieg der beiden Parteien nicht erwartet worden wäre.

Viele politisch interessierte Bürger der DDR schätzten ein, dass durch den Wahlsieg der SPD/FDP die Voraussetzungen zur Unterzeichnung des Vertrages über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD geschaffen worden seien.

Bei breiter Zustimmung aus allen Bevölkerungsschichten zur gegenwärtigen Entwicklung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten ist jedoch gleichzeitig auch festzustellen, dass die Politik der SPD und der Wahlsieg der SPD/FDP bei größeren Bevölkerungskreisen in der DDR die verschiedensten Illusionen und Erwartungen im Hinblick auf die Gestaltung der weiteren Beziehungen zwischen der DDR und der BRD ausgelöst haben.

In vielen Gesprächen wird eine Tendenz der Überbewertung der Rolle der SPD und besonders der Rolle Willy Brandts10 sichtbar. Diese Überbetonung der Rolle Brandts reicht in einigen Fällen bis zur Glorifizierung seiner Person.

An der Spitze solcher Haltungen stehen die Auffassungen, allein die SPD mit Brandt an der Spitze habe mobilisierend auf die gesamte Entwicklung in Europa gewirkt. Dabei wird die führende Kraft und Einflussnahme der sozialistischen Staaten auf diese Entwicklung abgewertet, geleugnet und angeführt, die sozialdemokratische Strategie wirke weitgehendst auf die osteuropäischen Länder und befinde sich seit der Funktionsausübung des Bundeskanzlers durch Brandt im ständigen Vormarsch.

Die sozialistischen Länder, insbesondere die DDR, hätten sich auf diese Strategie einstellen und zu Kompromissen bereitfinden müssen. Die DDR sei durch die SPD gezwungen, eine »Nachtrabpolitik« zu führen. Die bisherigen »Ergebnisse« der sozialdemokratischen Strategie des Eindringens in die osteuropäischen Länder werden mit einem »Demokratisierungsprozess« gleichgesetzt.

Bei Würdigung der Außenpolitik Bonns wird weiter betont, die taktischen Konzeptionen der SPD seien gut durchdacht; die Tatsache der Berücksichtigung von Realitäten durch die BRD sei zu begrüßen; die Aufgabe solcher politischen Doktrinen wie der über den Alleinvertretungsanspruch und die Orientierung auf die »moralische Verantwortlichkeit für die Nation« zeugten von der politischen Klugheit der Führer der SPD.

Wiederholt wird geäußert, die Regierung Brandt habe bisher Beharrlichkeit und Standhaftigkeit bei der Durchsetzung ihrer politischen Linie gezeigt, das müsse man anerkennen.

In diesem Zusammenhang wird vereinzelt – aber in allen Bevölkerungsschichten und Bezirken auftretend – an das von Brandt in Erfurt11 vorgelegte sogenannte 20-Punkte-Programm12 erinnert und die Ansicht vertreten, die SPD und Brandt hätten seitdem beharrlich an der Durchsetzung des Programms gearbeitet. Dabei wird die Erwartung ausgedrückt, dass auch noch »die restlichen Punkte« durch die SPD und Brandt verwirklicht würden.

Stark wird in den Meinungsäußerungen hervorgehoben, die Politik der SPD und Brandts beweise, dass die BRD ebenfalls – wie die sozialistischen Staaten – für den Frieden eingetreten sei. Bei der bisherigen Politik der Bonner Regierung ließen sich keine Anhaltspunkte für aggressive Ziele finden. Die gesamten Bemühungen dieser Regierung seien auf Verständigung und Frieden gerichtet.

Mehrfach wird die Meinung geäußert, die bisher zwischen der DDR und der BRD abgeschlossenen Verträge sowie der »Grundlagenvertrag« seien in erster Linie ein Verdienst der SPD und besonders Brandts. Dabei wird auch unterstellt, die DDR befinde sich dabei in der Defensive, das beweise u. a. das bisherige Nichterreichen bestimmter Maximalforderungen.

Konkret auf die Person von Willy Brandt bezogen, wird weiter geäußert, man sei Brandt gegenüber zur »Dankbarkeit« verpflichtet, weil er bisher »so viel« für die Bürger der DDR erreicht habe; mit einer Wiederwahl Brandts als Bundeskanzler sei die Garantie für Frieden und Entspannung gegeben; er sei ein »Friedenspolitiker«, (Verwendung des Begriffs »deutscher Friedenskanzler«); Brandt betreibe eine zielstrebige Politik; er werde auch weitere, von der DDR und den sozialistischen Staaten bisher noch nicht akzeptierte Forderungen durchsetzen; Brandt habe staatsmännische Fähigkeiten entwickelt, die in der BRD vorher kein Staatsmann habe unter Beweis stellen können. Er habe sich u. a. gegen die reaktionären Kräfte durchgesetzt und habe deshalb die Mehrheit der Bevölkerung der BRD auf seiner Seite; die »Ostpolitik«13 Brandts gehe in die Geschichte ein; er und seine Wähler hätten »Friedensgeschichte« gemacht; es sei erwiesen, dass Brandt eine lebensnahe und arbeiterfreundliche Politik mache; Brandt sei eine »Autoritätsperson im Weltmaßstab« und gewinne immer mehr Freunde.

Die Sympathien, die Brandt bei Teilen der Bevölkerung der DDR offensichtlich gewonnen hat, äußerten sich in allen Bezirken der DDR vereinzelt u. a. auch darin, dass ihm anlässlich des Wahlsieges Briefe und Telegramme mit persönlichen Glückwünschen und der Aufforderung, seine bisher praktizierte Politik weiterzuführen, zugesandt wurden.

Die Absender der Sendungen – die aus allen Schichten der Bevölkerung kommen – sind dem MfS bekannt.

Eine weitere Beifallsäußerung für Brandt war vereinzelt auch dadurch zu erkennen, dass bestimmte Bürger der DDR, besonders aus der Hauptstadt der DDR und den umliegenden Bezirken, nach der ersten Verlautbarung, Brandt werde den »Grundlagenvertrag« persönlich in der Hauptstadt der DDR unterzeichnen, erklärten, sie wollten Brandt in der Hauptstadt begrüßen, zuwinken bzw. zujubeln.14

Namen der sich in dieser Richtung äußernden Personen sind dem MfS bekannt. Darunter befinden sich auch eine Reihe ehemaliger SPD-Mitglieder und -anhänger.

Neben der Aufwertung und Überbetonung der Rolle Brandts ist festzustellen, dass eine Reihe von Bürgern der DDR bestimmte Erwartungen und Illusionen im Zusammenhang mit dem Ergebnis der Bundestagswahl zum Ausdruck bringen.

Diese Erwartungen sind sehr differenziert einzuschätzen und werden häufig von sehr persönlichen bzw. familiären Wünschen und Vorstellungen ausgehend geäußert.

Sie reichen von der Erhaltung des Friedens – der nach ihren Vorstellungen durch eine erneute Wahl Brandts als Bundeskanzler garantiert sei – über sogenannte weitere menschliche Erleichterungen bis zur baldigen Wiedervereinigung Deutschlands.

Viele Illusionen und Vorstellungen knüpfen außer an die Wiederwahl Brandts an abgeschlossene und »noch abzuschließende« Verträge an (z. B. an den Verkehrsvertrag oder an den Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD/Artikel 7 – Zusatzprotokoll –)15 und beinhalten Erwartungen hinsichtlich einer »Verbesserung« der persönlichen Lage.

Diese »Erwartungshaltung« bedingt häufig ein bisher nicht nachlassendes bzw. verstärktes Interesse an weiteren politischen Schritten der Bonner Regierung.

Das verstärkte Abhören westlicher Rundfunk- und Fernsehkommentare muss häufig auf diese »Erwartungshaltung« zurückgeführt werden.

Bei diesen Illusionen und Erwartungen treten besonders folgende Tendenzen wiederholt und in allen Bevölkerungsschichten in Erscheinung:

Eine Wiederwahl Brandts als Bundeskanzler der BRD biete Garantie dafür, dass der Frieden in Deutschland und Europa erhalten bleibe (in Einzelfällen: Brandt sei Antifaschist, sei während des Zweiten Weltkrieges emigriert und verdiene das Vertrauen der Arbeiter).

Brandt habe den Friedens-Nobelpreis16 mit vollem Recht erhalten; er werde sich weiter für Zusammenarbeit, Normalisierung und Fortschritt einsetzen.

Durch Brandts »Beweglichkeit und Toleranz« werden Initiativen zur Durchsetzung einer Reihe weiterer sogenannter menschlicher Erleichterungen erwartet. (Diese Argumente sind unter allen Bevölkerungskreisen verbreitet und nehmen den größten Umfang unter den bekannt gewordenen Reaktionen ein.)

Dabei wird in den meisten Fällen Bezug genommen auf die bereits gültigen Reiseerleichterungen und den Artikel 7 (Zusatzprotokoll) des »Grundlagenvertrages«.

Nach der Wiederwahl Brandts und nach Unterzeichnung des »Grundlagenvertrages« würden weitere Einzelverträge in Kraft gesetzt. Auch mit einer »besseren Handhabung« bereits bestehender Vereinbarungen sei zu rechnen.

Die Regierung der BRD werde darauf drängen, dass auch das »Besuchsverbot« für die BRD, das einen großen Teil der Bevölkerung der DDR betreffe, aufgehoben werde.

Verstärkte Diskussionen über sogenannte Erleichterungen in den Grenzgebieten werden von Bürgern dieser Bereiche geführt. Erhofft werden – häufig bezugnehmend auf Erklärungen von Staatssekretär Bahr17 über »vereinbarte Erleichterungen für Familienzusammenführungen und vereinfachte Besuchsmöglichkeiten mit Tagesaufenthalten in einem beträchtlichen Gebiet beiderseits der Grenze« – erleichterte Bedingungen bei besuchsweisem Aufenthalt im Grenzgebiet und die alsbaldige Einführung eines »kleinen Grenzverkehrs«.18 (Dabei werden von einem kleinen Teil dieser Bevölkerung Erwartungen geäußert, die bis zur Liquidierung der Staatsgrenze reichen.)

Im geringen Umfang wird von der Grenzbevölkerung und von anderen Bürgern erwartet, dass die SPD-Regierung und Brandt nach Unterzeichnung des »Grundlagenvertrages« darauf drängen werden, dass seitens der DDR der »Schießbefehl«19 aufgehoben werde.

Andere Bürger erhoffen die Schaffung eines breiten Touristenverkehrs zwischen der DDR und der BRD und äußern sich dahingehend, den Urlaub in der BRD verbringen zu wollen.

Aus klerikalen Kreisen der DDR und der BRD wird die offizielle Schaffung und Weiterführung einer Reihe von Kontakten auf kirchlichem Gebiet erwartet.

Es sei damit zu rechnen, dass die SPD nun alles in die Wege leiten und alle Mittel ausschöpfen werde, um die Deutschen wieder »zusammenzuführen«.

Nach Unterzeichnung des »Grundlagenvertrages« würden alle Möglichkeiten von Begegnungen ausgeschöpft.

So versprechen sich z. B. wissenschaftlich-technische Mitarbeiter verschiedener Betriebe, Mitarbeiter von Außenhandelsunternehmen u. a. stärkere Kontakte und Reisetätigkeit zur Förderung wirtschaftlicher Beziehungen mit der BRD.

Sportler erhoffen einen stärkeren Austausch von Sportlerdelegationen. In Kreisen von Kulturschaffenden werden verstärkt Möglichkeiten von Gastspielreisen in die BRD erwogen.

In mehreren Fällen wurde die Vermutung geäußert, dass im Rahmen eines abzuschließenden Vertrages über den Bezug von Büchern und Zeitschriften westdeutsche Presseerzeugnisse an den Kiosken der DDR angeboten werden.

Im Zusammenhang mit einem abzuschließenden Vertrag über die Erweiterung des Austausches von Rundfunk- und Fernsehproduktionen wird geäußert, dass unter diesen Umständen ohne Einschränkung auch »Westprogramme« empfangen werden könnten. Unter Studenten tauchen Fragen nach einem »Studentenaustausch« bei einer weiteren Normalisierung der Beziehungen auf.

In Diskussionen, aber auch in konkreten Anfragen bei Dienststellen der Deutschen Post und der Zollverwaltung wird wiederholt nach »Verbesserungen im Paketvertrag«20 gefragt.

Im Zusammenhang mit der Herstellung zwischenstaatlicher Beziehungen zwischen der DDR und der BRD haben sich nach vorliegenden Hinweisen unter der Bevölkerung der DDR politisch-ideologische Unklarheiten verstärkt.

Dabei ist zu bemerken, dass in den letzten Wochen aus den verschiedensten Gründen ein starker Trend zum Abhören westlicher Rundfunk- und Fernsehkommentare festzustellen war. Es ist auch offensichtlich, dass die Propaganda des Klassengegners im Zusammenhang mit der Entwicklung zwischenstaatlicher Beziehungen eine Reihe von Unsicherheiten hervorgebracht hat.

Solche Unklarheiten bestehen insbesondere bei der Einschätzung

  • des imperialistischen Charakters der BRD,

  • der Rolle der SPD und Brandts,

  • der Gefährlichkeit des Imperialismus und in

  • Fragen der Abgrenzung zur BRD.

Diese Unklarheiten äußern sich u. a. in solchen Diskussionen und Fragen wie:

Könne die bisherige Terminologie über den aggressiven Charakter der imperialistischen BRD aufrechterhalten werden? Die SPD und Brandt hätten friedliche Absichten bekundet und die Möglichkeit erhalten, diese in den sozialistischen Ländern kundzutun.

Die SPD und Brandt hätten sich in der Wahlvorbereitung offen gegen die Reaktion gestellt. Damit sei die These, die SPD sei vom Grunde her eine arbeiterfeindliche Partei, widerlegt.

Einer Zusammenarbeit mit der SED stünde jetzt nichts mehr im Wege.

Die »bewährte Taktik« der SPD, möglichst viele Probleme am Verhandlungstisch zu lösen, habe sich wieder einmal als richtig erwiesen. Die Polemiken gegen die SPD müssten damit einer Revision unterzogen werden.

Nach der Unterzeichnung des »Grundlagenvertrages« und der Schaffung gutnachbarlicher Beziehungen sei eine scharfe Argumentation gegenüber der BRD nicht mehr zulässig.

Inwieweit werde jetzt der Begriff der »gemeinsamen Nation« weiter bestehen? Die gegenwärtige Entwicklung ließe eine gewisse Annäherung der beiden deutschen Staaten erkennen. Das Bewusstsein einer einheitlichen Nation werde damit gestärkt. Man könne die nationale Frage als gelöst betrachten. (Vereinzelt)

Wird das Problem der Abgrenzung jetzt anders behandelt?

Das Streben nach Kontakten beweise, dass es keine grundsätzliche Abgrenzung zwischen den beiden deutschen Staaten geben könne und dass bestimmte Positionen der Abgrenzung bereits aufgegeben wurden.

Nach Unterzeichnung des »Grundlagenvertrages« wäre eine friedliche Koexistenz auch auf ideologischem Gebiet möglich.

Ist die Einführung eines »kleinen Grenzverkehrs« nicht identisch mit einer Liquidierung der Staatsgrenze?

Befindet sich die DDR in einer politischen Defensive?

Die SED hätte vielen Kompromissen zustimmen müssen und dabei die Maximalforderungen nicht bis zur letzten Konsequenz durchsetzen können (eindeutig formulierte völkerrechtliche Anerkennung durch die BRD, Ernennung eines Vertreters der BRD in der DDR im Range eines Botschafters u. a.).

Führt die gegenwärtige Entwicklung zu einer Wiedervereinigung Deutschlands? Die Wiedervereinigung sei aktueller als die Jahre zuvor; auch der »Grundlagenvertrag«, der von zwei deutschen Staaten spreche, könne nicht darüber hinwegtäuschen.

Inwieweit sind die außenpolitische Entwicklung der DDR nach dem VIII. Parteitag und die »Normalisierungsbestrebungen« seitens der SED und der SPD mit einem »revolutionären Umschwung« gleichzusetzen?

(In diesen Argumenten spielen z. B. Zusammenhänge zwischen der »deutschen Ostpolitik« und den Hegemoniebestrebungen des deutschen Imperialismus keine Rolle. Die Tatsache, dass sich nach der Wiederwahl Brandts als Bundeskanzler und trotz »Grundlagenvertrag« am staatsmonopolistischen System der BRD nichts geändert hat, wird nur in wenigen Diskussionen erwähnt.)

Besteht die Möglichkeit, dass sich neben den staatlichen Beziehungen DDR – BRD auch Beziehungen zwischen der SED und der SPD herausbilden könnten?

(Vereinzelt mit Hinweis auf die Vereinigung beider Parteien 1945 in der DDR.)21 Praktisch würden solche Beziehungen gegenwärtig in den laufenden Verhandlungen zwischen dem FDGB und dem DGB22 erprobt.

Befindet sich die BRD unter Führung der SPD als Arbeiterpartei auch auf dem Weg zum Sozialismus? Die SPD geht nur einen anderen Weg als die sozialistischen Länder.

Ist es überhaupt ökonomisch in der DDR zu verkraften, wenn die Anerkennungswelle der DDR beginnt?

(Botschaftsgebäude, Wohnungen, Finanzierung der Beiträge im Falle des Beitritts in die UNO.)

Ist die Wahl des Bundestages in der BRD hinsichtlich ihres »demokratischen Vorgehens« nicht ein »Beispiel« für die DDR?

Ist es möglich, dass nach der Verhandlungsbereitschaft der DDR wieder ein »harter Kurs« auf innenpolitischem Gebiet folge? Die jetzt betriebene »Demokratisierungspolitik« erscheine ungewöhnlich und würde ein jähes Ende finden.

Musste die DDR bestimmte politische Forderungen der BRD erfüllen, da die »Schulden« gegenüber der BRD nicht abgebaut werden können? (Argument: politischer »Ausverkauf« gegenüber der BRD.)

Eine Reihe von Argumenten fortschrittlicher Bürger der DDR beinhalten Bedenken hinsichtlich einer – wie sie meinen – gegenwärtigen Zurückhaltung der SED in der politisch-ideologischen Auseinandersetzung mit der SPD.

Dagegen verlaufe die politische Propaganda der SPD in der DDR und den sozialistischen Staaten gegenwärtig günstiger für die SPD, da sie auf großes Interesse stoße. Besonders im Zusammenhang mit den abgeschlossenen Verträgen bestünden »positive Voraussetzungen« für die SPD, das »Feind-Denken« einzuschränken.

Die zurzeit »geduldete politische Windstille« berge die Gefahr in sich, politisch interessierte, aber ungenügend ideologisch gefestigte Bürger der DDR auf den Weg eines »demokratischen Sozialismus« zu ziehen.

Es fehle in unseren Massenmedien eine Hintergrundauseinandersetzung mit der rechten SPD-Führung und der »Ostpolitik« der BRD-Regierung.

  1. Zum nächsten Dokument Entwicklung des Reiseverkehrs DDR– Polen (4)

    7. Dezember 1972
    Information Nr. 1104/72 über die Entwicklung des pass- und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen

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    4. Dezember 1972
    Information Nr. 1095/72 über den Stand der Realisierung des Polyurethanvorhabens im VEB Synthesewerk Schwarzheide