Rowdyhaftes Verhalten Jugendlicher gegenüber SED-Mitglied
24. Juli 1972
Information Nr. 701/72 über schwere rowdyhafte Verhaltensweisen einer Gruppe Jugendlicher gegenüber dem Abteilungsleiter für Sicherheitsfragen der Bezirksleitung der SED Cottbus am 21. Juli 1972
Am 21.7.1972, gegen 17.00 Uhr, wurde der Genosse Puls, Alfred,1 geboren: 17.8.1923, wohnhaft: Cottbus, Rudolf-Rothkegel-Straße 74, von den Jugendlichen [Name 1, Vorname], geboren: [Tag, Monat] 1955, wohnhaft: Cottbus, [Straße, Nr.], Agrotechnikerlehrling in der LPG Sielow,2 Mitglied der FDJ, [Name 2, Vorname], geboren: [Tag, Monat] 1953, wohnhaft: Cottbus, [Straße, Nr.], Lagerist im Chemiehandel Potsdam, Betriebsteil Cottbus, Mitglied des FDGB, der FDJ, [Name 3, Vorname], geboren: [Tag, Monat] 1952, wohnhaft: Frankfurt/Oder, [Straße, Nr.], Beifahrer im VEB Kombinat Kraftverkehr Frankfurt/Oder, Mitglied des FDGB, der FDJ, [Name 4, Vorname], geboren: [Tag, Monat] 1959, wohnhaft: Cottbus, [Straße, Nr.], Schüler, auf dem Weg von der Arbeitsstelle zu seiner Wohnung tätlich angegriffen, wobei er Quetschungen und Prellungen am linken Unterarm, am Brustkorb sowie eine Schnittwunde am Kinn erlitt.
Nach Behandlung in der chirurgischen Abteilung der Poliklinik Cottbus wurde Genosse Puls nach Hause entlassen und trat am 22.7.1972 planmäßig seinen Jahresurlaub an.
Der dem Genossen Puls zu Hilfe eilende [Name 5, Vorname], geboren: [Tag, Monat] 1920, wohnhaft: Cottbus, [Straße, Nr.], Sachbearbeiter im Wohnungs- und Gesellschaftsbau Cottbus wurde ebenfalls durch die Jugendlichen tätlich angegriffen und mehrfach auf den Kopf geschlagen. Er erhielt dabei keine sichtbaren Verletzungen, leidet jedoch nach diesen Gewalttätigkeiten an heftigen Kopfschmerzen, die offenbar durch im Zweiten Weltkrieg erlittene schwere Kopfverletzungen noch begünstigt werden.
Gegen die [Name 1], [Name 2] und [Name 3] wurden durch das MfS Ermittlungsverfahren gemäß §§ 2153 und 2164 StGB (Rowdytum im schweren Fall) eingeleitet. Durch den Staatsanwalt ist Haftbefehl beantragt worden.
[Name 4], der sich an den Gewalttätigkeiten gegen den Genossen Puls und den Bürger [Name 5] nicht beteiligt hatte, ist strafrechtlich nicht verantwortlich und wurde an die Erziehungsberechtigten übergeben.
Die durch das MfS bisher durchgeführten Untersuchungen zum Sachverhalt hatten folgendes Ergebnis:
Genosse Puls befand sich auf dem Weg von seiner Arbeitsstelle zu seiner Wohnung, wobei die beiden Jugendlichen [Name 1] und [Name 4] in Höhe des Schwarzen Weges vor ihm hergingen. Als Genosse Puls beide fast erreicht hatte, wandte sich [Name 1] um und verstellte ihm provokatorisch den Weg. Genosse Puls, der daraufhin auf die andere Wegseite auswich, wurde auch dort von [Name 1] auf die gleiche Weise behindert. Daraufhin schob Genosse Puls den [Name 1] mit dem linken Arm ohne größere Kraftanstrengung zur Seite, wobei [Name 1] aufgrund alkoholischer Beeinflussung und eventuellen Stolperns hinfiel.
[Name 1] forderte sofort danach den ihn begleitenden [Name 4] auf, »die anderen« zu holen, worauf sich [Name 4] im Laufschritt den Weg zurückbegab.
Während Genosse Puls weiter in Richtung seiner Wohnung ging, folgte ihm [Name 1]. Kurz darauf näherten sich drei weitere Personen, bei denen es sich um [Name 4], [Name 2] und [Name 3] handelte, im Laufschritt.
([Name 4] hatte [Name 2] und [Name 3] aus der in der Nähe gelegenen Wohnung der Mutter des [Name 4] geholt, wo sie sich unmittelbar vor dem Zusammentreffen mit dem Genossen Puls gemeinsam aufhielten und alkoholische Getränke zu sich nahmen. Die Jugendlichen kennen sich durch früheres gemeinsames Wohnen und besuchen sich gelegentlich.)
Genosse Puls, der beim Näherkommen der Gruppe Gewalttätigkeiten vermutete, versuchte sich in Sicherheit zu bringen, lief in den Hausflur des in der Nähe stehenden Hauses der Otto-Thiele-Straße5 19, schloss die Haustür [auf] und drückte die Türklinke von innen nach oben. [Name 3] und [Name 1] zertrümmerten daraufhin je eine Scheibe in der Haustür; [Name 3] und [Name 2] drückten einen Flügel der Haustür auf und klemmten Genossen Puls dadurch zwischen Tür und Hauswand. ([Name 4] sah diesen und den weiteren Handlungen aus ca. 10 m Entfernung zu.)
[Name 2] und [Name 3] schlugen danach abwechselnd mit wuchtigen Schlägen auf Genossen Puls ein, wobei sie besonders Kopf, Brust, Magengegend und Arme des Geschädigten trafen und ca. 20 Schläge anbrachten, obwohl Genosse Puls bereits nach den ersten Schlägen aus der Oberlippe blutete und zwischen Wand und Tür in Hockstellung gehen musste. [Name 2] und [Name 3] ließen zu dem Zeitpunkt von Genossen Puls ab, als der Bürger [Name 5] dem Genossen Puls zu Hilfe kommen wollte und schlugen auf ihn ein. Danach setzte [Name 1] die Gewalttätigkeiten gegen Genosse Puls fort, versetzte ihm ca. fünf Faustschläge und verließ danach gemeinsam mit [Name 2], [Name 3] und [Name 4] – der sich noch immer in der Nähe befand – den Tatort.
Der Bürger [Name 5], der zur Tatzeit aus dem gegenüberliegenden Haus trat, hörte das Klirren von Glasscherben, ging auf den Tatort zu und wollte dem Genossen Puls, der von [Name 2] und [Name 3] attackiert wurde, zu Hilfe kommen. Er wurde jedoch durch [Name 2] am Betreten des Hauses gehindert. In diesem Moment ließ auch [Name 3] vom Genossen Puls ab und beide, [Name 2] und [Name 3], schlugen auf den Bürger [Name 5] ein, den sie mit etwa drei wuchtigen Schlägen an Kopf, Brust und Unterleib trafen.
Der Bürger [Name 5] holte unmittelbar danach sein Fahrzeug aus der in der Nähe befindlichen Garage und setzte auf der anschließenden Fahrt zur Apotheke einen Angehörigen der DVP von den Rowdyhandlungen in Kenntnis.
Zur Reaktion der Hausbewohner der Otto-Thiele-Straße 19 bei Wahrnehmung der Gewalttätigkeiten wurde bekannt, dass der [Name 6, Vorname 1], Dipl.-Ingenieur bei der Wasserwirtschaftsdirektion Spree/Oder/Neiße Cottbus das Geschehen vom Treppenhaus aus verfolgte. Er griff jedoch nicht ein, da er – wie er angab – barfuß war und nicht in die herumliegenden Glasscherben treten wollte. Erst als die Täter den Tatort verlassen hatten, bemühte er sich um den Verletzten.
Die [Name 6, Vorname 2], Handelsökonom im Konsument-Warenhaus Cottbus forderte die Schläger vom Treppenhaus mehrmals lautstark vergeblich auf, die Handlungen zu unterlassen.
Genosse Schadel, Kurt,6 Abteilungsleiter bei der Bezirksleitung der SED Cottbus, der ebenfalls das Klirren von Glasscheiben wahrgenommen hatte, betrat den Hausflur nach Beendigung der Gewalttätigkeiten, nahm Genosse Puls mit in seine Wohnung und verständigte die DVP.
Die Täter standen während der Tatzeit zum Teil unter erheblichem Alkoholeinfluss. Sie hatten Wein, Bier, Sekt, Schnaps und Eierlikör in unterschiedlichen Mengen getrunken.
Nach Zeugenaussagen machte [Name 1] den Eindruck starker alkoholischer Beeinflussung, [Name 2] war angetrunken und [Name 3] zeigte keine Beeinflussung. (Die Ergebnisse der Blutalkoholuntersuchung liegen zurzeit noch nicht vor.)
Die Täter begründen ihre Straftaten folgendermaßen:
[Name 1] kann sich angeblich aufgrund des Grades der Trunkenheit nicht an Einzelheiten erinnern. Er will aufgrund der Tatsache, dass er vom Genossen Puls zur Seite geschoben wurde, verärgert gewesen sein und wollte sich rächen.
(Nach den bisher geführten Ermittlungen ist [Name 1] unter Einfluss von Alkohol streitsüchtig und brutal. Er hatte bereits etwa eine Stunde vor den Gewalttätigkeiten gegen den Genossen Puls in der Nähe des späteren Tatortes gegen einen Arbeiter einer Kahnanlegestelle Streit gesucht, war aber von anderen Personen zurückgehalten worden.)
[Name 2] und [Name 3] begründen ihre Straftaten damit, von [Name 4] erfahren zu haben, dass [Name 1] von einem Mann zu Boden geworfen worden sei; sie wollten [Name 1] »helfen« und »rächen«.
Übereinstimmend geben die vier Jugendlichen an, den Genossen Puls vorher nicht gekannt zu haben. Von dessen Funktion und Tätigkeit hätten sie vorher keine Kenntnis gehabt. Genosse Puls trug am 21.7.1972 kein Jackett und demzufolge kein Parteiabzeichen.
Die bisherigen Untersuchungen zur Persönlichkeitsstruktur der Täter ergaben:
Die vier Jugendlichen entstammen Arbeiterfamilien. Positive politische Einflüsse seitens des Elternhauses bei [Name 1] und [Name 2] bleiben infolge des Einflusses außerhalb des Elternhauses ohne nennenswerte Wirkung.
Obwohl alle vier Jugendlichen der FDJ angehören, sind sie gesellschaftlich inaktiv. Ihre Freizeit verbringen sie – außer [Name 4]– an Straßenecken und in Gaststätten und nehmen dort zum Teil erhebliche Mengen Alkohol zu sich.
[Name 1], [Name 2] und [Name 3] haben mit durchschnittlichem Ergebnis die Schule bis zur achten Klasse absolviert.
Einflüsse seitens des Westfernsehens konnten bisher nicht erarbeitet werden.
Vom MfS werden zurzeit weitere Untersuchungen zur Aufklärung dieser Straftaten geführt.
Es ist vorgesehen, das Verfahren in dieser Woche abzuschließen.