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Schusswaffengebrauch am Munitionslager Potsdam-Bornim

9. Mai 1972
Information Nr. 447/72 über den Gebrauch der Schusswaffe durch einen Posten des MSR 2 mit Todesfolge eines zivilen Bürgers am Munitionslager der 1. MSD in Potsdam-Bornim

Am 1.5.1972, gegen 13.40 Uhr, wurde infolge der Anwendung der Schusswaffe durch den am Munitionslager der 1. MSD der NVA in Bornim, Kreis Potsdam-Land, diensthabenden Wachposten Soldat [Name 1, Vorname], geboren: [Tag, Monat] 1952 in Lengröde, wohnhaft 5901 Krauthausen, Kreis Eisenach, [Straße], der sich an der äußeren Objektbegrenzung des Munitionslager befindliche Bürger Bretall, Rainer,1 geboren: 26.11.1952 in Bornim, Kreis Potsdam, zuletzt tätig als Maurer im VEB Baureparaturen Potsdam, wohnhaft: Bornim, Potsdamer Straße 63, tödlich verletzt.

Die bisher geführten Untersuchungen durch das MfS ergaben:

Gegen 13.35 Uhr näherten sich – aus Richtung der Ortschaft Bornim kommend – die in Bornim wohnhaften Jugendlichen Bretall, Rainer und [Name 2, Vorname] dem östlichen äußeren Begrenzungszaun des Munitionslagers der 1. MSD der NVA.

Sie beabsichtigten, gemeinsam den in der Nähe des Munitionslagers der 1. MSD gelegenen Rieselteich aufzusuchen. Dabei wollten sie den am nördlichen Begrenzungszaun des Munitionslagers entlang führenden Trampelpfad benutzen, der auch von anderen Einwohnern des Dorfes wiederholt zur Abkürzung des Weges benutzt wurde.

Da das außerhalb der äußeren Umzäunung gelegene Gelände des Munitionslagers, einschließlich des von den beiden Personen benutzten Trampelpfades, nicht durch besondere Kennzeichnung zur Sperrzone erklärt ist, darf sich jede Person bis unmittelbar an die äußere Begrenzung des militärischen Objektes begeben bzw. entlang der Begrenzung bewegen.

Als sie gegen 13.35 Uhr in die Nähe des östlichen äußeren Begrenzungszaunes des äußeren Begrenzungszaunes des Munitionslagers gelangten, bemerkten sie den ihnen unbekannten diensttuenden Posten der NVA, Soldat [Name 1].

Danach bewegten sich beide entlang des östlichen äußeren Begrenzungszaunes, um nach ca. 20 Metern auf dem erwähnten Trampelpfad entlang des nördlichen Begrenzungszaunes ihren Weg fortzusetzen.

Dabei versuchte [Name 2], eine gefundene Limonadenflasche an einem Betonpfosten der Begrenzung des Munitionslagers zu zertrümmern. Der diensttuende Posten [Name 1] glaubte, dass sich die beiden Jugendlichen am Objektzaun zu schaffen machen wollten und forderte sie unter Androhung der Anwendung der Schusswaffe auf, stehen zu bleiben.

Da beide Personen dieser Aufforderung nicht Folge leisteten, sondern ihren Weg entlang des Begrenzungszaunes fortsetzten, gab Soldat [Name 1] zunächst einen Warnschuss ab und wiederholte diese Aufforderung unter gleichzeitiger Abgabe weiterer Warnschüsse, da beide Personen darauf nicht reagierten. Da Bretall und [Name 2] – beide waren der Meinung, dass der Wachposten nur mit Platzpatronen schieße – alle Anrufe und Warnschüsse ignorierten, gab Soldat [Name 1] gezielte Feuerstöße mit seiner MPi ab.

Obwohl der Wachposten nach eigenen Angaben nur auf die Beine von Bretall und [Name 2] zielte, wurde Bretall von einem Geschoss im Rücken getroffen, offensichtlich dadurch begünstigt, dass sich B. während der gezielten Schussabgabe hügelabwärts bewegte. Späteren ärztlichen Feststellungen zufolge verstarb der B. an Lungen- und Herzverletzungen infolge Schussverletzung noch am Vorkommnisort.

Die bisherigen Untersuchungen des MfS ergaben, dass Bretall und [Name 2] weder einen Angriff auf den Wachposten beabsichtigt noch einen Versuch zum Eindringen in das Munitionslager unternommen hatten.

Der Wachposten, Soldat [Name 1], rechtfertigte in der Untersuchung sein Verhalten mit der angeblich exakten Befolgung der vor dem Wachantritt durchgeführten Wachbelehrung durch den Stabschef des II. Bataillons des MSR 2, Oberleutnant Wockatz.2

Bei der am 30.4.1972 stattgefundenen Wachbelehrung hatte Oberleutnant Wockatz unter Hinweis auf den hohen Gefechtswert des zu schützenden Objektes sowie in Auswertung einer Vielzahl in der Vergangenheit von Angehörigen der Munitionslagerwache verursachter Vorkommnisse und angesichts des bevorstehenden Staatsfeiertages hohe Wachsamkeit und exakte Dienstdurchführung gefordert.

Entgegen der gültigen Schusswaffengebrauchsbestimmung 10/4 der NVA3 belehrte Wockatz die Wachposten dahingehend, dass sie auf Personen, die sich am Objektzaun zu schaffen machen, im Falle der Nichtbefolgung der Aufforderung, stehen zu bleiben, ohne Warnschuss gezielt zu schießen hätten.

Oberleutnant Wockatz begründete diese Weisung mit der militärischen Bedeutung dieses NVA-Objektes und mit den in der Vergangenheit aufgetretenen Mängeln in der Dienstdurchführung der Wachposten.

Wockatz hatte sich nach eigenen Angaben vor der Wachbelehrung nicht nochmals mit dem Inhalt der Dienstvorschrift 10/4 vertraut gemacht.

Bei Oberleutnant Wockatz handelt es sich um einen der Partei der Arbeiterklasse treu ergebenen Offizier, der seine Aufgaben bisher pflichtbewusst und diszipliniert erfüllte.

Soldat [Name 1] entstammt einer Arbeiterfamilie, besuchte die Grundschule bis zur achten Klasse und erlernte den Beruf eines Geflügelzüchters.

Im Jahre 1969 wurde er wegen versuchten ungesetzlichen Grenzübertrittes vom Kreisgericht Eisenach zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Nach Verbüßung der Strafe war er in der PGH Hoch- und Tiefbau Eisenach als Bauhilfsarbeiter tätig.

Am 2.11.1971 wurde [Name 1] zur Ableistung seines Grundwehrdienstes in die Nationale Volksarmee einberufen und nach Absolvierung der Grundausbildung als LMG-Schütze in der 5. Kompanie des MSR 2 in Stahnsdorf eingesetzt.

In seiner bisherigen Dienstdurchführung verhielt er sich diszipliniert und zeigte durchschnittliche Leistungen. Charakterlich wird er von seinen Vorgesetzten als leicht erregbar eingeschätzt.

Der an den Folgen der Schussverletzung verstorbene Bretall, Rainer lebte in der Wohnung seiner Mutter. Sein Vater hatte die Familie im Jahre·197l verlassen. Bretall [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben] und wurde im Jahre 1970 vom Kreisgericht Potsdam-Land wegen Rowdytums und unerlaubten Waffenbesitzes zu einer bedingten Freiheitsstrafe mit zweijähriger Bewährung verurteilt.

Der Jugendliche [Name 2, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1954 in Bornstedt, Kreis Potsdam, entstammt einer Arbeiterfamilie und lebte zuletzt bei seiner geschiedenen Mutter. Einer seiner Brüder verbüßt gegenwärtig eine Haftstrafe, während ein weiterer im Jugendwerkhof4 untergebracht ist. Seine Schwester – Schülerin der achten Klasse – fehlt wiederholt unentschuldigt im Unterricht.

Im Ergebnis der Untersuchung des Vorkommnisses durch das MfS in Zusammenarbeit mit dem Militäroberstaatsanwalt sind disziplinarische Maßnahme und eine entsprechende Auswertung im Offizierskorps der Einheit vorgesehen, um eine strikte Einhaltung der Dienstvorschriften und Befehle der Nationalen Volksarmee zu erreichen.

Ausgehend von den Umständen des Vorkommnisses entschied die Militäroberstaatsanwaltschaft, dass keine entsprechenden Voraussetzungen vorliegen, um den Soldaten [Name 1, Vorname], strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.

Von der möglichen Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen Oberleutnant Wockatz wegen »Verletzung der Dienstaufsichtspflicht durch Vorgesetzte« wurde Abstand genommen.

Der Tod des Bretall wurde seiner Mutter sowie der Mutter des [Name 2] durch leitende Offiziere der NVA-Dienststelle Stahnsdorf mitgeteilt. Den Angehörigen wurde dargelegt, dass die beiden Jugendlichen den Anlass für die Anwendung der Schusswaffe durch den Wachposten gaben.

Die Angehörigen verhielten sich den Umständen entsprechend ruhig und gefasst und brachten von sich aus dieses Vorkommnis mit den bisherigen negativen Verhaltensweisen ihrer Söhne in Verbindung. Obwohl das Vorkommnis unter den Einwohnern der Ortschaft Bornim bekannt wurde, löste es keine negativen Diskussionen aus.

  1. Zum nächsten Dokument Erwartete Einreisen in die DDR (17.5.–24.5.)

    12. Mai 1972
    Information Nr. 459/72 über die im Zusammenhang mit der Einreise Westberliner Bürger in die DDR im Zeitraum 17. bis 24. Mai 1972 zu erwartenden Reiseströme

  2. Zum vorherigen Dokument Lohndiskussionen bei der Deutschen Reichsbahn in Westberlin

    8. Mai 1972
    Information Nr. 432/72 über Lohndiskussionen und Lohnforderungen in Einrichtungen der Deutschen Reichsbahn in Westberlin