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Schwerer Grenzdurchbruch DDR– BRD mittels Lkw, Oberzella

7. Februar 1972
Information Nr. 110/72 über einen schweren Grenzdurchbruch DDR – BRD mittels Lkw am 1. Februar 1972 im Raum Oberzella, Bezirk Suhl

Am 1.2.1972, gegen 15.10 Uhr, durchbrachen im Grenzabschnitt Oberzella, Kreis Bad Salzungen, die DDR-Bürger [Name 1, Vorname 1], geboren [Tag, Monat] 1942 in Bad Liebenstein, wohnhaft gewesen in Immelborn, Kreis Bad Salzungen, [Straße, Nr.], zuletzt tätig gewesen als Kraftfahrer bei der BHG Bad Salzungen, Mitglied der SED, dessen Ehefrau [Name 1, Vorname 2], geborene [Name 2], geschiedene [Name 3] geboren [Tag, Monat] 1945 in Wenigentaft, wohnhaft gewesen wie Ehemann, zuletzt tätig gewesen als Sachbearbeiterin im Versorgungskontor des VEB Werkzeugkombinat Schmalkalden, Hartmetallwerk Immelborn und das Kind der [Name 1] aus erster Ehe, [Name 3, Vorname], sechs Jahre alt, mittels eines geländegängigen Lkw, Typ W 50 (ausgerüstet als Spezialfahrzeug zum Düngerstreuen) polizeiliches Kennzeichen [Nummer], gewaltsam die Staatsgrenze der DDR zur BRD.

Die bisherigen Untersuchungen des MfS haben ergeben:

Der [Name 1] war seit 1970 mehrmals im Auftrag des Grenzregimentes Dermbach mit dem ihm anvertrauten Spezialfahrzeug zum Sprühen von Unkrautbekämpfungsmitteln entlang der Grenzsicherungsanlagen (Kontrollstreifen)1 im gesamten Bereich des Grenzregimentes Dermbach eingesetzt.

Seit November 1971 war [Name 1] mit dem Streuen von Dünger auf den landwirtschaftlichen Nutzflächen der Gemeinde Oberzella eingesetzt. Mit der Erfüllung dieses Auftrages war [Name 1] auch am 1.2.1972 beschäftigt.

Nachdem [Name 1] zwei Fuhren Spezialdünger vom Kalkwerk Oberrohn nach Oberzella gefahren hatte, wurde von Bürgern der Gemeinde Immelborn gegen 13.00 Uhr beobachtet, dass er vor seinem Wohnhaus vorfuhr und – entgegen seinen bisherigen Gewohnheiten – den Lkw nicht auf der Straße abstellte, sondern ihn rückwärts in den Hof des Grundstückes fuhr.

Hier wurden von [Name 1] seine Ehefrau und deren Kind vermutlich in den Aufbauten des Spezialfahrzeuges versteckt untergebracht.

Gegen 15.00 Uhr fuhr [Name 1] mit dem Lkw auf der Straße Oberzella – Niederndorf in das Grenzsperrgebiet ein. Am VP-Kontrollpunkt Oberzella wurden bei der Einfahrt in das Grenzsperrgebiet außer dem [Name 1] keine weiteren Personen im Fahrerhaus des Lkw festgestellt. Eine Kontrolle der Aufbauten des Spezialfahrzeuges wurde nicht durchgeführt.

[Name 1] befuhr anschließend einen Feldweg in Richtung der Straße Oberzella – Schwenge und kam in Höhe des Flurteiles Wolfsburg auf einem Hohlweg an die Grenzsicherungsanlagen.

Hier fuhr [Name 1] circa 35 Meter auf dem Kontrollstreifen entlang und durchfuhr die in diesem Grenzabschnitt befindlichen Drahtsperren. Der Zustand dieser bereits 1962 errichteten pioniertechnischen Anlagen stellt für eine Überwindung mit dem von [Name 1] benutzten Lkw kein Hindernis dar.

Nach gewaltsamer Überwindung der Grenzsicherungsanlagen überfuhr [Name 1] nach ca. 70 m die Staatsgrenze der DDR zur BRD und entfernte sich auf dem Territorium der BRD entlang der Straße Lengers – Phillipsthal.

Am Tatort waren keine Grenzposten eingesetzt. Der nächste Grenzposten befand sich 500 Meter vom Durchbruchsort entfernt auf einem Beobachtungsturm.

Die Grenzsicherungskräfte beobachteten die Annäherung des Lkw des [Name 1] an die Staatsgrenze. Sie haben dieser Verhaltensweise jedoch keine Beachtung geschenkt, da ihnen der Führer dieses Spezialfahrzeuges und seine wiederholten beruflichen Tätigkeiten im Grenzsperrgebiet und an den Grenzsicherungsanlagen bekannt waren und sie keinen Verdacht auf die Durchführung eines ungesetzlichen Grenzübertrittes hatten.

In der bisherigen Untersuchung konnte herausgearbeitet werden, dass der gewaltsame, schwere Grenzdurchbruch u. a. durch folgende Umstände und Bedingungen begünstigt wurde:

  • Im Verlaufe der Untersuchungen wurde bekannt, dass sich [Name 1] während seiner Arbeiten auf landwirtschaftlichen Nutzflächen in Oberzella bereits am 31.1.1972 längere Zeit unberechtigt in der Nähe des Durchbruchsortes aufgehalten und an seinem Fahrzeug zu schaffen gemacht hatte.

  • Diese Beobachtungsergebnisse der Grenzposten wurden ebenso, wie bereits erwähnt, die Annäherung des Täters am 1.2.1972 an die Staatsgrenze nicht beachtet.

  • [Name 1] hatte aufgrund seiner mehrmaligen beruflichen Tätigkeit in unmittelbarer Nähe der Staatsgrenze die Möglichkeit, eine intensive Aufklärung des Grenzsicherungssystems, der Grenzsicherungsanlagen und des Einsatzes der Grenzposten durchzuführen.

  • Sowohl am Volkspolizeikontrollpunkt als auch beim unberechtigten Aufenthalt des [Name 1] am 31.1.1972 an der Staatsgrenze und seiner Annäherung an die Staatsgrenze am 1.2.1972 wurde den Handlungen und Verhaltensweisen des [Name 1] – der den Sicherungskräften der VP und der NVA/Grenze bekannt war – unter Verstoß gegen einschlägige Befehle und Weisungen keinerlei Beachtung geschenkt.

  • Die im Abschnitt der Grenzkompanie Kirstingshof,2 Grenzregiment 3 Dermbach, vorhandenen pioniertechnischen Sicherungsanlagen sind aufgrund Überalterung im Wesentlichen unwirksam.

  • Ein 1962 angelegter Kfz-Sperrgraben ist total verwachsen und als solcher weder wirksam noch erkennbar.

  • Die in 500 m Entfernung eingesetzten Grenzsicherungskräfte hatten objektiv die Möglichkeit, den Grenzdurchbruch zu verhindern. Sie handelten, begünstigt durch die erwähnte Gleichgültigkeit gegenüber den verdächtigen Verhaltensweisen des [Name 1], unentschlossen und machten keinen Gebrauch von der Schusswaffe.

Zur Täterpersönlichkeit:

[Name 1] entstammt einer Arbeiterfamilie. Nach Abschluss der achten Klasse der Grundschule erlernte er den Beruf eines Kfz-Schlossers und nahm 1965 eine Tätigkeit als Kraftfahrer beim Rat des Kreises Bad Salzungen, Abteilung Landwirtschaft auf.

Seine 1965 eingegangene erste Ehe, aus der ein Kind hervorging, war 1967 geschieden worden.

1969 ging [Name 1] eine zweite Ehe ein [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben].

Aus finanziellen Gründen nahm [Name 1] im Jahre 1969 eine Tätigkeit als Kraftfahrer bei der BHG Bad Salzungen auf. Seine Arbeitsleistungen wurden als überdurchschnittlich eingeschätzt. Er hatte einen Verdienst von monatlich ca. 1 500 Mark netto.

Seit 1965 war [Name 1] Mitglied der SED und seit 1971 Mitglied der Leitung der Grundorganisation der [Organisation].

[Name 1] war freiwilliger Helfer der Deutschen Volkspolizei und leistete eine aktive Arbeit, wofür er mehrmals prämiert und ausgezeichnet wurde.

Im Wohngebiet lebte die Familie [Name 1] zurückgezogen.

Ein Bruder der Ehefrau des [Name 1] verließ 1959 ungesetzlich die DDR. 1970 und 1971 hielt sich dieser besuchsweise bei der Familie [Name 1] in Immelborn auf.

Die Untersuchungen des MfS zur umfassenden Aufklärung der Ursachen, Motive und begünstigenden Bedingungen dieses schweren Grenzdurchbruches werden fortgeführt.

  1. Zum nächsten Dokument Stellungnahmen von Komplementären zur 4. ZK-Tagung

    8. Februar 1972
    Information Nr. 123/72 über Stellungnahmen von Komplementären, Besitzern von Privatbetrieben und Funktionären befreundeter Parteien zur 4. Tagung des ZK der SED

  2. Zum vorherigen Dokument Sitzung der Kirchenleitung Berlin-Brandenburgs

    3. Februar 1972
    Information Nr. 115/72 über die Sitzung der Kirchenleitung der evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg am 28. Januar 1972 in Berlin