Schwerer ungesetzlicher Grenzdurchbruch DDR– BRD
27. Januar 1972
Information Nr. 76/72 über einen schweren ungesetzlichen Grenzdurchbruch DDR – BRD am 19. Januar 1972
Am 19.1.1972, vermutlich in der Zeit zwischen 19.00 und 20.00 Uhr, durchbrachen im Abschnitt der Grenzkompanie Großburschla, Grenzregiment Mühlhausen (Kreis Eisenach, Bezirk Erfurt), der [Name 1, Vorname 1], geboren: [Tag, Monat] 1939 in Großliebringen, Kreis Arnstadt, wohnhaft gewesen: Großburschla, [Straße, Nr.] (500-Meter-Schutzstreifen), zuletzt tätig im Kreiskrankenhaus Eisenach, Abt. Gynäkologie (Facharztausbildung) mit seiner Ehefrau [Name 1], geborene [Name 2], [Vorname 2], geboren: [Tag, Monat] 1940 in Bad Sulza, nicht berufstätig, und den ehelichen Kindern [Vorname 3], geboren: [Tag, Monat] 1961, [Vorname 4], geboren: [Tag, Monat] 1965, [Vorname 5], geboren: [Tag, Monat] 1970, mit dem Pkw, Typ »Wartburg P 311«, polizeiliches Kennzeichen LJ 00–57, die Staatsgrenze der DDR zur BRD.
Die bisherigen Untersuchungen des MfS ergaben:
[Name 1] wohnte ca. 300 m von den Grenzsicherungsanlagen entfernt. In den Nachmittagsstunden des 19.1.1971 hielt er sich kurze Zeit mit dem Kinderwagen in unmittelbarer Nähe der Grenzsicherungsanlagen auf. Gegen 18.30 Uhr bemerkten Hausbewohner, dass [Name 1] mehrmals zu seinem vor dem Wohnhaus parkenden Pkw lief und gegen 18.50 Uhr wurde der Pkw von einem weiteren Bürger ca. 100 m vor dem unmittelbar an der Werrabrücke gelegenen Tor der Grenzsicherungsanlagen gesehen. In keinem Fall wurden diese Feststellungen zum Anlass genommen, die Grenzsicherungskräfte von diesen verdächtigen Verhaltensweisen in Kenntnis zu setzen.
Erst am 20.1.1972, gegen 9.10 Uhr, stellte eine 6-Meter-Kontrollstreife, ca. 600 Meter nordostwärts der Werrabrücke Großburschla, Pkw- und Fußspuren eines ungesetzlichen Grenzübertrittes DDR – BRD fest.
In Rekonstruktion des ungesetzlichen Grenzübertrittes wurde festgestellt, dass [Name 1] mittels Werkzeugs zwei Ketten und Vorhängeschlösser am Tor der unmittelbar an der freundwärtigen Seite der Werrabrücke gelegenen Grenzsicherungsanlagen gewaltsam entfernt, das Tor geöffnet und mit dem Pkw passiert hatte.
Anschließend muss sich [Name 1] nochmals zu diesem Tor zurückbegeben und es mit zwei offensichtlich von ihm mitgeführten neuen Ketten und zwei Vorhängeschlössern wieder in seinen alten Zustand versetzt haben.
[Name 1] hat nach Passieren der Werrabrücke die in ca. 300 m Entfernung, unmittelbar an der Staatsgrenze vorhandene alte Drahtsperre auf zwei Pfählen zerschnitten und anschließend durchfahren.
Im Ergebnis der bisherigen Untersuchungen wurde eine Anzahl Umstände und Bedingungen erkannt, die das Gelingen des Grenzdurchbruches wesentlich begünstigten.
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[Name 1] selbst wohnte, wie bereits erwähnt, ca. 300 m von den Grenzsicherungsanlagen entfernt.
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Er hatte die Möglichkeit, das Grenzsicherungssystem bezüglich des Posteneinsatzes und der pioniertechnischen Sicherung in diesem Grenzabschnitt intensiv aufzuklären.
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Hinzu kommt, dass mehrfach – so auch am 19.1.1972 – die Einweisung und Ablösung eines Teiles der zum Grenzdienst eingesetzten Postenpaare unmittelbar vor dem Wohnhaus des [Name 1] durchgeführt wurde.
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Der Grenzabschnitt Werrabrücke ist ungenügend pioniertechnisch gesichert. Entgegen bestehenden Befehlen und Weisungen befindet sich in diesem Grenzabschnitt kein Kfz-Sperrgraben. Zum Zeitpunkt des ungesetzlichen Grenzübertrittes war dieser Abschnitt kräftemäßig nicht gesichert. Der nächste Grenzposten war in ca. 600 Meter Entfernung eingesetzt.
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Der in Auswertung eines Vorkommnisses in diesem Grenzabschnitt am 1.1.1972 vom Chef des Grenzkommandos Süd gegebene Befehl, an der Werrabrücke Großburschla ständig einen Grenzposten einzusetzen, wurde nicht durchgeführt.
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Die Organisation des Grenzdienstes in der Kompanie Großburschla ließ ernsthafte Schwächen erkennen. So erfolgte der Posteneinsatz starr und schematisch und ermöglichte dem Gegner eine intensive Aufklärung der Streifentätigkeit.
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Die Einweisung der Grenzposten in den Grenzdienst wurde am 19.1.1972 entgegen bestehenden Befehlen nicht im Grenzabschnitt, sondern in der Grenzkompanie vorgenommen.
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Durch das Grenzregiment Mühlhausen wurde die anleitende Kontrolltätigkeit gegenüber der Kompanie Großburschla vernachlässigt.
Während der Untersuchungen am Tatort des ungesetzlichen Grenzübertrittes am 20.1.1972 war im westzonalen Vorfeld eine starke Personenbewegung feststellbar. Angehörige des BGS und des Zollgrenzdienstes hatten ganztägig an der Staatsgrenze Posten bezogen. Unter den anwesenden Zivilpersonen befanden sich auch Vertreter westdeutscher Rundfunkstationen und Presseorgane. Gegnerische Grenzüberwachungskräfte und Zivilpersonen versuchten mehrfach, durch Zuruf Kontakt zu Angehörigen der Grenztruppen der NVA herzustellen. Weitere Provokationen oder andere Vorkommnisse traten nicht auf.
Gegen [Name 1] und seine Ehefrau wurden wegen ungesetzlichen Grenzübertrittes Ermittlungsverfahren eingeleitet.
Die Untersuchungen des MfS zur umfassenden Aufklärung der Ursachen, Motive und begünstigenden Bedingungen dieses ungesetzlichen Grenzübertrittes werden fortgeführt.
Es wird empfohlen, nach Abschluss der Untersuchungen eine Auswertung vor der Bezirks- und Kreiseinsatzleitung durchzuführen, um die herausgearbeiteten Schlussfolgerungen bei der Neufestlegung des Grenzgebietes in diesem Abschnitt – und soweit von grundsätzlicher Bedeutung durch die zentrale Kommission – berücksichtigen zu können.