Stellungnahmen von Komplementären zur 4. ZK-Tagung
8. Februar 1972
Information Nr. 123/72 über Stellungnahmen von Komplementären, Besitzern von Privatbetrieben und Funktionären befreundeter Parteien zur 4. Tagung des ZK der SED
Dem MfS liegen Informationen über Stellungnahmen von Komplementären, Besitzern von Privatbetrieben und Funktionären befreundeter Parteien, insbesondere aus dem Raum Karl-Marx-Stadt,1 zu nichtveröffentlichten Materialien der 4. Tagung des ZK der SED2 hinsichtlich des weiteren Vorgehens im Zusammenhang mit halbstaatlichen und Privatbetrieben3 sowie über die Aussprache des Ersten Sekretärs der SED, Genossen Erich Honecker,4 mit den Vorsitzenden der befreundeten Parteien am 13.1.1972 vor.5
Der Inhalt der vorliegenden Meinungsäußerungen deutet darauf hin, dass insbesondere in Kreisen der befreundeten Parteien bzw. ihnen nahestehender Komplementäre und Besitzer von Privatbetrieben Kenntnisse über interne Dokumente der 4. Tagung des ZK der SED sowie auch über eine Aussprache von Gerald Götting6 mit den Bezirksvorsitzenden der CDU vorhanden sind.7
Im Zusammenhang mit den bekannt gewordenen Meinungsäußerungen aus den Kreisen der Komplementäre und Mitglieder befreundeter Parteien liegen auch solche Informationen vor, die besagen, dass im Wirtschaftsrat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt Beratungen und Besprechungen durchgeführt wurden, in denen über Veränderungen im Bereich der halbstaatlichen Industrie diskutiert wurde. Dabei sei auch parteiinternes Material der 4. Tagung des ZK behandelt worden.
So wurde beispielsweise in einer Beratung am 12.1.1972 im Bezirkswirtschaftsrat, die vom 1. Stellvertreter des Vorsitzenden, Genossen Findewirth,8 geleitet wurde und an der ein größerer Kreis leitender Funktionäre des Wirtschaftsrates teilnahm, zu dieser Problematik gesprochen. Dabei wurde unter anderem sinngemäß angeführt, dass Überlegungen angestellt werden sollten, wie die halbstaatlichen Betriebe in Volkseigentum überführt werden können. Dabei sei es notwendig zu prüfen, wie die Betriebe mit staatlicher Beteiligung, Privatbetriebe und PGH systematisch zu volkseigenen Betrieben entwickelt werden könnten. Ausgehend von dieser Beratung fanden in den Industrieabteilungen wiederum Auswertungen statt, an denen unter anderem auch Mitglieder befreundeter Parteien teilnahmen. Dadurch wurde offensichtlich parteiinternes Material der 4. Tagung des ZK der SED auch in diesen Kreisen bekannt.
In Kreisen der CDU wird in diesem Zusammenhang davon gesprochen, dass in der Republik fünf Beispiele geschaffen würden, wovon auch zwei im Bezirk Karl-Marx-Stadt liegen.
(Schüngel-KG9 und Plauener Baumwollspinnerei KG Alban Schwalbe10 aus dem Bezirk Karl-Marx-Stadt sowie je ein Betrieb in den Bezirken Dresden, Suhl und Cottbus.)
Nach Hinweisen aus Kreisen der LDPD habe der Vorsitzende der LDPD, Dr. Manfred Gerlach,11 die Bezirksvorsitzenden der LDPD auf der Grundlage des Gesprächs, welches der Erste Sekretär des ZK der SED, Genosse Erich Honecker, mit den Vorsitzenden der befreundeten Parteien am 13.1.1972 führte, informiert und darauf orientiert, Komplementäre von Betrieben mit staatlicher Beteiligung und Besitzer von Privatbetrieben, die Mitglieder der LDPD sind, auszuwählen, die auf dem bevorstehenden Parteitag der LDPD in Weimar12 bereit sind, den Antrag zu stellen, ihre Betriebe an den Staat verkaufen zu wollen.
Die aus Kreisen von Komplementären sowie Besitzern privater Betriebe darüber hinaus vorliegenden Informationen beziehen sich im Wesentlichen auf folgende Probleme:
Sowohl die verschiedenen Gespräche der Führung der SED als auch der Verlauf der letzten ZK-Tagungen müssten zu denken geben.
Sie würden bei vielen Komplementären das Gefühl aufkommen lassen, dass der Staat gar nicht mehr so an den Betrieben mit staatlicher Beteiligung interessiert sei.
Früher habe man nach ZK-Tagungen oft über die Verantwortung der halbstaatlichen Betriebe lesen können, das sei jetzt nicht mehr der Fall. Offensichtlich seien Maßnahmen besprochen worden, auf deren Grundlage die Betriebe mit staatlicher Beteiligung bald »verschwinden« würden.
Wenn Partei und Regierung derartige Maßnahmen vorhätten, dann solle man wenigstens »human« vorgehen und die Probleme Schritt für Schritt mit allen Beteiligten besprechen.
Wenn man schon eine »voll sozialistische Wirtschaft« wolle, soll das »offen und ehrlich« gesagt werden. Etwaige »Überrumpelungen« würden zu nichts führen und auch in Westdeutschland und im Ausland Anstoß erregen. Dadurch könne unser Staat nur an Ansehen verlieren.
Man könne sich des Gedankens nicht erwehren, dass man jetzt plötzlich wieder »Kapitalist« und nicht mehr »sozialistischer Werktätiger« sei. Das spüre man insbesondere auch daran, dass leitende Genossen von Partei und Regierung in ihren Ansprachen immer nur von den Leistungen der Arbeiterklasse und der Intelligenz sprächen. Es entstände dadurch auch der Eindruck, gar nicht mehr voll in die Erfüllung der wirtschaftlichen Aufgaben einbezogen zu werden.
Die Hervorhebung der Verdienste der Arbeiterklasse könne allerdings auch dazu dienen, mehr »Zuspruch« für die Politik von Partei und Regierung zu bekommen, und mit einer solchen »Stütze im Rücken« könne auch zu ernsthaften Schritten gegen Komplementäre und Privatbesitzer vorgegangen werden. Um die »Fronten zu klären, solle der Staat gleich alles wegnehmen«.
Partei und Regierung sollten sich ihre Maßnahmen »genau überlegen«. Schon einmal, nämlich im Jahre 1953, sei ein »harter Kurs« gegen die Privatindustrie gefahren worden.13 Nach kurzer Zeit hätte er aber wieder revidiert werden müssen.
Die gesamte halbstaatliche und private Wirtschaft habe genügend unter Beweis gestellt, zu welchen Leistungen sie fähig sei. Auf diese Leistungen könne in der gegenwärtigen ökonomischen Situation niemand verzichten. Die volkseigene Industrie solle erst einmal das Gleiche vollbringen. Es gelte jetzt, »unauffällig« mitzuarbeiten, denn in spätestens vier Jahren würde sich die Politik von Partei und Regierung gegenüber dem privaten Sektor wieder ändern. Bis zu diesem Zeitpunkt läge die DDR-Wirtschaft »völlig am Boden« und man wäre froh, wenn die Komplementäre und Privatbesitzer ihre »Unterstützung« zusagen würden, um wieder »in die Höhe« zu kommen.
In diesem Zusammenhang – so wird vereinzelt spekuliert – könnten auch die Bestrebungen der EWG,14 speziell über die skandinavischen Länder Einfluss auf die sozialistischen Staaten zu erhalten, für den noch bestehenden privaten Sektor in der Wirtschaft der DDR die Situation verbessern.
Vereinzelt tauchten auch solche Meinungen auf, wonach Komplementäre – aber auch Handwerker – an den zu erwartenden Maßnahmen von Partei und Regierung »selbst schuld seien, da sie ihren oftmals sehr hohen Lebensstandard zu offen zur Schau stellten. So etwas müsse dem Staat doch auffallen«.
Im Übrigen solle sich der Staat viel mehr mit den Handwerkern »beschäftigen«, denn das seien »die Millionäre im Staat«.