Ungesetzliches Verlassen der DDR bei Gastspielreise
2. Juni 1972
Information Nr. 530/72 über das ungesetzliche Verlassen der DDR durch Angehörige des Landestheaters Halle anlässlich einer Gastspielreise nach Wiesbaden
Im Zeitraum vom 23. bis 26.5.1972 gastierte das Opernensemble des Landestheaters Halle anlässlich der »Internationalen Theaterfestspiele«1 am Hessischen Staatstheater Wiesbaden.
Insgesamt reisten zu diesem Zweck 145 Angehörige des Landestheaters Halle nach Wiesbaden.
In Vorbereitung dieses Gastspiels erfolgten gemeinsam mit der Leitung des Landestheaters Halle umfangreiche Überprüfungsmaßnahmen im Hinblick auf die für das Gastspiel vorgesehenen Personen. In deren Ergebnis wurde vier Ensemblemitgliedern die Ausreise nicht gestattet; sie wurden durch zuverlässige Mitarbeiter ersetzt.
Trotz der durchgeführten umfangreichen Überprüfungsmaßnahmen benutzten fünf Mitglieder des Ensembles ihren Aufenthalt in Wiesbaden, um die DDR ungesetzlich zu verlassen.
Am 25.5.1972 nutzten diese Personen die ungehinderten Bewegungsmöglichkeiten in der Stadt Wiesbaden, um sich vom Kollektiv zu entfernen und republikflüchtig zu werden.
Über diese fünf Personen lagen keine negative oder andere, auf eine mögliche Republikflucht hindeutende Hinweise vor.
Auch von den im Kollektiv des Ensembles in Wiesbaden wirkenden gesellschaftlichen Kräften, die bestimmte Sicherungsaufgaben zu lösen hatten, wurden keine Feststellungen über Vorbereitungshandlungen u. a. Verdachtshinweise getroffen.
In einem Fall wurde lediglich nach der erfolgten Republikflucht bekannt, dass ein technischer Mitarbeiter des Hessischen Staatstheaters durch ein Ensemblemitglied nach Möglichkeiten des Verbleibens in Westdeutschland befragt worden ist.
Bei den republikflüchtigen Personen handelt es sich um folgende:
[Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1946, wohnhaft Leipzig-Markleeberg, [Straße, Nr.], Orchestermitglied des Landestheaters Halle seit 15.1.1969.
Der [Name 1] stammt aus einer stark religiös eingestellten Familie, sein Vater ist Pfarrer.
Hinweise über eigene kirchliche Aktivitäten des [Name 1] lagen jedoch nicht vor.
Der [Name 1] ist ausgebildeter Musiker mit Staatsexamen und gilt als sehr gute Fachkraft. Ab 1.9.1972 sollte er eine neue Tätigkeit beim Rundfunksinfonieorchester Leipzig aufnehmen.
Der [Name 1] ist erst seit Dezember 1971 verheiratet. Seine Ehefrau ist ebenfalls als Musiker ausgebildet; sie wird mit Spielzeit 1972/73 beim Staatlichen Sinfonieorchester Halle ihre Tätigkeit aufnehmen.
Die Eheverhältnisse waren geordnet. Sowohl die Eltern als auch die Ehefrau finden keine Erklärung für das Verbleiben des [Name 1] in Westdeutschland und verurteilen seine Handlungsweise.
Über die Flucht des [Name 1] gibt es lediglich den Hinweis, dass sich eine unbekannte Person aus Westdeutschland am Theater in Wiesbaden nach dem [Name 1] erkundigte.
Von Angehörigen der Wiesbadener Polizei wurden am 26.5.1972 im Hotel die persönlichen Gegenstände des [Name 1] gefordert. Dieses Ansinnen lehnte der Orchester-Inspektor jedoch ab. Die persönlichen Sachen des [Name 1] wurden mit in die DDR gebracht.
[Name 2, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1951, wohnhaft Halle, [Straße, Nr.], Bühnentechniker am Landestheater Halle seit 27.10.1969
Der [Name 2] wurde bisher in seinem gesamten politisch-moralischen Verhalten als positiv eingeschätzt.
Er absolvierte seinen Ehrendienst bei der NVA mit guten Leistungen und galt als fleißiger und zuverlässiger Mitarbeiter. Über verwandtschaftliche Beziehungen oder andere persönliche Kontakte nach Westdeutschland war nichts bekannt.
In einem an seine Eltern gerichteten Telegramm teilte der [Name 2] mit, dass er sich bei seinem Onkel in Köln aufhalte und nicht wieder in die DDR zurückkehre.
[Name 3, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1943, wohnhaft Leipzig, [Straße, Nr.], Tänzerin am Landestheater Halle seit 1.8.1969.
Die [Name 3] erlernte ursprünglich den Beruf einer Schneiderin und qualifizierte sich an der Abendschule für Ballett in Leipzig zur Tänzerin. Sie zeigte in der Vergangenheit durchschnittliche fachliche Leistungen. Sie verhielt sich politisch inaktiv und gehörte lediglich dem FDGB an.
Über Westverbindungen war bis zum Reiseantritt bekannt, dass sie lose Verbindungen zu ihrem in Westdeutschland lebenden Bruder unterhielt. Von diesem wurde die [Name 3] am 25.5.1972 in Wiesbaden mit einem Pkw abgeholt.
[Name 4, Geburtsname, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1941, wohnhaft Halle, [Straße, Nr.], Tänzerin am Landestheater Halle seit 1.8.1968, geschieden. Die [Name 4] die in der Vergangenheit eine gute Arbeitsmoral zeigte, beabsichtigte aufgrund ihres Alters, sich in Halle als Heilgymnastin ausbilden zu lassen.
Anzeichen auf eine etwaige Republikflucht gab es vor der Abreise keine.
Sie war eng befreundet mit dem von 1962–1970 beim Landestheater Halle als Orchestermusiker tätig gewesenen [Name 5, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1941, wohnhaft Nelschütz, [Bezirk] Halle, [Straße, Nr.], zuletzt als Solohornist bei der Philharmonie Dresden beschäftigt.
Aufgrund guter fachlicher Leistungen wurde er des Öfteren als Gast an das Landestheater Halle verpflichtet.
Für das Gastspiel in Wiesbaden war der [Name 5] als Ersatz vorgesehen, wurde jedoch bis zum Reiseantritt nicht benötigt und reiste deshalb nicht mit dem Ensemble aus.
In seinem ständigen Reisepass, den der Kaderinstrukteur des Landestheaters Halle aufbewahrte, war das Ausreisevisum für die Zeit des Gastspiels des Landestheaters Halle in Wiesbaden eingetragen, um bei Bedarf eine schnelle Nachreise zu ermöglichen.
Am 23.5.1972 erschien der [Name 5] beim Kaderinstrukteur und verlangte seinen Reisepass mit der Begründung, diesen in Dresden für ein Auslandsgastspiel nach Bulgarien zu benötigen. Daraufhin erfolgte die Aushändigung des Passes.
Am 25.5.1972 wurde der [Name 5] in Wiesbaden mit der [Name 4] gesehen. In einer daraufhin von der Ensembleleitung mit beiden durchgeführten Unterredung erklärten sie sich bereit, mit dem Ensemble die Rückfahrt in die DDR anzutreten, falls dem [Name 5] garantiert werde, dass ihm aus seinem unberechtigten Aufenthalt in Wiesbaden keine Unannehmlichkeiten entstehen, vonseiten der Ensembleleitung wurde dies zugesichert.
Zur Abfahrt am 26.5.1972 erschienen beide jedoch nicht.
Wie erst nachträglich bekannt wurde, besaß die [Name 4] Verwandte in Westdeutschland, die sie während des Gastspiels in Wiesbaden besuchten.
Zu [Name 5] ist über die Zeit seiner Tätigkeit beim Landestheater Halle bekannt, dass er für gute gesellschaftliche und fachliche Leistungen mehrmals prämiert wurde.
Etwaige Westkontakte wurden nicht festgestellt.