Ungesetzliches Verlassen der DDR durch Ingenieur
12. Januar 1972
Information Nr. 36/72 über das ungesetzliche Verlassen der DDR durch den 3. Ingenieur des MS »Eichsfeld«, Reich, am 9. Januar 1972 in Kiel-Holtenau
Über das ungesetzliche Verlassen der DDR durch den Reich, Peter,1 geboren: [Tag, Monat] 1945, wohnhaft: Dresden, [Straße, Nr.], erlernter Beruf: Maschinenbauer, zuletzt beim VEB Deutsche Seereederei (seit 11.1.1966) und das damit im Zusammenhang stehende Eingreifen westdeutscher Organe in Kiel-Holtenau bei der Republikflucht seiner Ehefrau Reich, Ruth,2 geboren: [Tag, Monat] 1948, wohnhaft: Warnemünde, [Straße, Nr.], zuletzt beschäftigt als Ingenieur für Reparaturvorbereitung im VEB Bagger-, Bugsier- und Bergungsreederei Rostock und ihres eineinhalbjährigen Kindes liegen dem MfS bisher folgende Hinweise vor:
Reich, der 1970 die Ingenieur-Hochschule Warnemünde-Wustrow besucht hatte und seit diesem Zeitpunkt als sogenannter Springer auf verschiedenen Schiffen des VEB Deutsche Seereederei tätig war, wurde am 7.1.1972 auf dem MS »Eichsfeld« als 3. Ingenieur gemustert.
(Dem R. war dieser Umstand seit dem 5.1.1972 bekannt.)
Von der bevorstehenden Anmusterung auf MS »Eichsfeld« setzte der R. noch am 5.1.1972 seine Ehefrau in Kenntnis, worauf diese am 6.1.1972 für den nächsten Tag ihren Haushaltstag3 im Betrieb beantragte.
In der Zwischenzeit durchgeführte Befragungen ergaben, dass die Familie des Reich im Verlaufe des 8.1.1972 von mehreren Besatzungsmitgliedern an Bord des MS »Eichsfeld« gesehen wurde. Dazu ist zu bemerken, dass die R. aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit die Genehmigung besaß, das Gelände des Überseehafens Rostock mit Dienstausweis zu betreten.
Eine Berechtigung zum Betreten des MS »Eichsfeld« war damit jedoch nicht verbunden.
Die Kontrolle des Besucherbuches des Schiffes ergab, dass keine diesbezüglichen Eintragungen vorgenommen waren.
Da die Verantwortlichen für das Schiff, einschließlich des Kapitäns, die Familie des Reich selbst auf dem Schiff nicht gesehen hatten und die anderen Besatzungsmitglieder eine entsprechende Meldung nicht für notwendig erachteten, konnte der Reich seine Familie nach bisherigen Untersuchungsergebnissen offensichtlich unbemerkt in einem zurzeit noch nicht bekannten Raum des Schiffes verstecken.
Auf welchem Wege die Frau des Reich mit dem Kind das Schiff betreten hat, ist noch nicht erwiesen. Der Kapitän des Schiffes, Zeplien,4 und eine Reihe von Besatzungsmitgliedern brachten dazu übereinstimmend zum Ausdruck, dass während der Liegezeit des MS »Eichsfeld« im Seehafen Rostock entsprechend den geltenden Bestimmungen Gangwaywachen gestellt wurden, die der Wachoffizier ordnungsgemäß eingewiesen hatte.
Das MS »Eichsfeld« verließ am 9.1.1972, 2.00 Uhr, den Hafen Rostock und trat seine Reise nach Ostafrika über die Häfen Hamburg, Rotterdam und Antwerpen an.
Das Schiff befand sich während der Passage des Nord-Ostsee-Kanals am 9.1.1972 um 10.00 Uhr in der Schleuse Kiel-Holtenau. Während des Aufenthalts in der Schleuse war durch den Kapitän, Genossen Zeplien, Landgangsverbot für die gesamte Besatzung erteilt worden. Der 1. Nautische Offizier, Genosse Gerstmann,5 erhielt die Order zur persönlichen Bewachung des Landganges des Schiffes. Der 1. Nautische Offizier wurde durch den 2. und 3. Nautischen Offizier abgelöst. Beide Genossen bewachten den Landgang des Schiffes als Doppelposten.
Im Verlaufe der Liegezeit in der Schleuse führte der Reich mit diesen beiden Offizieren ein Gespräch. Sein Verhalten wies eindeutig darauf hin, dass Reich beide Offiziere bei der Wachausübung unterstützen wollte. Plötzlich stieß er beide zur Seite, sprang auf den Landgang und lief an Land. Auf die Rufe der beiden Offiziere reagierte er nicht.
Nach kurzer Zeit erschienen zwei Beamte des Bundesgrenzschutzes beim Kapitän und informierten darüber, dass sich die Ehefrau des Reich mit Kind an Bord befinde und verlangten die Herausgabe beider Personen.
Der Kapitän verweigerte das und verwies energisch auf die für ihn an Bord geltenden Gesetze der DDR. Daraufhin teilten die Beamten dem Kapitän mit, dass das Schiff die Schleuse nicht verlassen dürfe und entfernten sich von Bord.
Der Kapitän, der erstmalig durch den Bundesgrenzschutz über den Aufenthalt der beiden Personen an Bord informiert wurde, erteilte sofort dem 1. Nautischen Offizier die Anweisung, die Tür zur Kammer des Reich zu bewachen und dessen Familie am Verlassen der Kammer zu hindern.
Kurz darauf erschienen vier Beamte des Bundesgrenzschutzes bzw. der Wasserschutzpolizei der BRD beim Kapitän und forderten ultimativ die Herausgabe der Frau und des Kindes.
Der Kapitän protestierte erneut und forderte einen schriftlichen Auslieferungsbefehl. Die westdeutschen Beamten entgegneten jedoch, dass er keinen solchen erhalte und seine Kammer nicht mehr verlassen dürfe. Der Kapitän wurde gleichzeitig davon unterrichtet, dass die beiden Personen nunmehr gewaltsam von Bord gebracht würden. In dieser Situation forderte der Kapitän die Unterzeichnung folgender Eintragung im Schiffstagebuch:
»Um 10.00 Uhr liegt das Schiff in der Schleuse. Wasserschutzpolizei und Bundesgrenzschutz erschienen an Bord und wollen Ehefrau des 3. Ingenieurs mit Kind von Bord nehmen. Verweigere Auslieferung, werde unter Kammerarrest gestellt und muss unter Zwang die Personen ausliefern.«
Diese Eintragung wurde von drei der vier westdeutschen Beamten gegengezeichnet.
Danach begaben sich drei Beamte zur Kammer des Reich, während einer als Posten beim Kapitän verblieb.
Der Kapitän musste dann seine dem 1. Nautischen Offizier gegebene Anweisung zur Bewachung der Kammertür durch Zuruf aufheben. Die Beamten klopften mehrmals an die Tür und gaben sich durch Zuruf zu erkennen. Danach öffnete Frau Reich die Tür. [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben]. Beide Personen sowie das zugehörige Gepäck wurden durch die westdeutschen Beamten von Bord gebracht. Danach entfernte sich auch der Beamte, der den Kapitän bewacht hatte.
Dem Kapitän wurde die Befehlsgewalt über das Schiff wieder erteilt und die Weiterfahrt des Schiffes gestattet.
Das Schiff verließ um 11.05 Uhr die Schleuse Kiel-Holtenau und wurde während der weiteren Kanalpassage mehrmals fotografiert und gefilmt.6
Zur Person des Reich
Die Beurteilungen bis zum Schulbesuch 1970 enthalten Hinweise auf eine gute fachliche Aufgabenerfüllung und Zuverlässigkeit, gute Kenntnisse über Maschinenanlagen und ein gutes Verhältnis zum Kollektiv.
In politischer Hinsicht ist R. nicht hervorgetreten. Im Jahr 1965 wurde er einmal angesprochen, Kandidat der SED zu werden, lehnte dies jedoch ab.
Im März 1971 hatte Reich einen Mitreiseantrag für seine Ehefrau gestellt, der genehmigt wurde. (April bis Juni 1971 eine Afrikafahrt.)
Das Ehepaar Reich besaß in Rostock noch keine eigene Wohnung und führte faktisch einen getrennten Haushalt. Aus Unzufriedenheit darüber beteiligte sich die Reich nicht an den Volkswahlen 1971.7
Das in Warnemünde von der Familie Reich gemietete Zimmer befand sich in großer Unordnung und hinterließ den Eindruck eines kurzfristigen Aufbruchs. Ein aufgefundenes Sparkassenbuch wies eine Restsumme von 105 M auf, nachdem am 7.1.1972 1 000 M abgehoben wurden.
Die weiteren Untersuchungen durch das MfS werden insbesondere in der Richtung geführt, die Motive des Reich, die konkreten Tatumstände und eventuell begünstigende Bedingungen aufzuklären.
In Absprache mit den zuständigen Organen wird begonnen, solche Kontrollmaßnahmen im Hafen einzuleiten und durchzusetzen, wie sie bereits bei ausländischen Schiffen während ihres Aufenthalts in Häfen der DDR angewandt werden, dass nur solche Personen DDR-Schiffe betreten können, die dafür eine Genehmigung haben.