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Ursachen des Großbrandes am U-Bahnhof Alexanderplatz

22. November 1972
Information Nr. 1074/72 über die Ursachen des Großbrandes auf der U-Bahnlinie A im Bereich des U-Bahn-Bahnhofes Alexanderplatz am 4. Oktober 1972

Am 4.10.1972, gegen 3.55 Uhr, kam es in einem U-Bahn-Viererzug der Linie A, der auf einem Abstellgleis (Gleis 3) unmittelbar vor dem Bahnsteig A des genannten Bahnhofes stand, zu einem Brand. Der Brand griff in seinem Verlauf auf einen gleichfalls in diesem Bereich abgestellten Achterzug über und entwickelte sich zum Großbrand. Durch diesen Großbrand sind zwölf U-Bahn-Fahrgastwagen und ein Arbeitszug, bestehend aus zwei Triebwagen und drei Arbeitszugloren, total vernichtet worden. Des Weiteren stürzte infolge des Brandes der U-Bahntunnel, der zwischen dem Centrum-Warenhaus und dem Interhotel »Stadt Berlin«1 lag, auf einer Länge von 86 m total ein und senkte sich auf weiteren 30 m Länge erheblich ab. Alle in diesem Teil des Tunnels installierten Anlagen wurden zerstört. Personenschaden trat nicht ein.

Durch den Großbrand entstand nach bisherigen Berechnungen des VEB Kombinat Berliner Verkehrsbetriebe ein Sach- und Nachfolgeschaden von ca. 13 Mio. Mark. Dem Centrum-Warenhaus entstand durch Rauchgaseinwirkung ein Sachschaden von 10 000 Mark und durch die zeitweise Schließung ein Warenumsatzverlust in Höhe von 3,2 Mio. Mark.

Durch die vom MfS und der DVP geführten Untersuchungen wurde zweifelsfrei bewiesen, dass der Brand im Beiwagen vom Typ AI/UB mit der Nummer 175 523–7 des auf dem Gleis 3 abgestellten Viererzuges seinen Ausgang genommen hat und aufgrund der Entzündung brennbaren Materials an einem überhitzten Vorwiderstand der Lichtrelaisanlage entstand.

Im Einzelnen wurde festgestellt:

Im Bereich des U-Bahn-Bahnhofes der Linie A Alexanderplatz befinden sich zwei Fahrgleise sowie zwei Abstellgleise (Gleis 3 und 4). Die Abstellgleise 3 und 4 werden in der Hauptsache in der betriebsarmen Zeit bzw. in der Zeit der Betriebsruhe als Abstellgleise für aussetzende Züge genutzt. Darüber hinaus dienen sie als Rangiergleise für umzusetzende Züge.

Am 3.10.1972, um 20.28 Uhr, wurde ein Achtwagenzug auf dem Gleis 4 abgestellt und unmittelbar danach durch den Stellwerker [Name 1] durch Betätigen des Trennschalters von der Stromversorgung abgeschaltet. Am 4.10.1972, gegen 0.50 Uhr, ist dann der Vierwagenzug, in dem später der Brand ausbrach, durch den Triebwagenführer [Name 2] und die Zugbegleiterin [Name 3] auf dem Gleis 3, auf welchem bereits ein Hilfsgerätewagen stand, abgestellt worden. Durch Betätigen der Fahrstromautomaten trennte [Name 2] die Motoren des Zuges vom Fahrstrom, während die Innenbeleuchtung des Zuges in Form von Leuchtstofflampen weiter brannte.

Das Ausschalten der Beleuchtung erfolgt entsprechend innerbetrieblichen Regelungen des U-Bahnbetriebes nur durch das Abtrennen von Abstellgleisen bzw. durch das Abschalten ganzer Streckenbereiche durch die Dispatcherzentrale. [Name 2] und [Name 3] machten beim Verlassen des Zuges keine Wahrnehmungen, die auf einen Brand schließen lassen.

Am 4.10.1972, gegen 3.00 Uhr, setzte der Stellwerker [Name 4] das Gleis 3 in Erwartung eines aus Richtung Pankow zurückkehrenden Arbeitszuges unter Strom. Der Arbeitszug mit insgesamt 16 Personen erreichte den Bahnhof Alexanderplatz gegen 3.55 Uhr. Nach Aussagen des Triebwagenführers und gleichzeitig Verantwortlichen für das Personal des Zuges [Name 5, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1938, wohnhaft: Berlin-Buchholz, [Straße, Nr.], die von anderen Personen aus dem Arbeitszug bestätigt bzw. ergänzt werden, bemerkte dieser kurz vor dem Bahnhof Alexanderplatz im U-Bahntunnel Rauchschwaden. Unmittelbar vor Einfahrt auf dem Bahnsteig A sah er im zweiten Wagen des auf dem Gleis 3 abgestellten Viererzuges – es handelt sich um den Beiwagen mit der Nummer 175 523–7 – eine starke Rauchentwicklung. Er ließ seinen Zug sofort auf Gleis 3 umsetzen und eilte mit mehreren Kollegen zum abgestellten Viererzug. Nach Besteigen des genannten Wagens stellte er unter der Sitzbank für Schwerbeschädigte Flammen von ca. 50 cm Höhe und eine starke Rauchentwicklung fest. Mithilfe von Feuerlöschern wurde die Brandbekämpfung aufgenommen. Nachdem keine Flammenbildung mehr wahrgenommen wurde, verließen die an der Brandbekämpfung beteiligten BVB-Angehörigen den Wagen.

[Name 5] veranlasste die Alarmierung der Feuerwehr.

Da sich zu diesem Zeitpunkt die genannten Personen in unmittelbarer Nähe des Brandortes aufhielten, konnten sie ein erneutes Aufflammen im Wagen 2 und ein Übergreifen des Brandes auf die Innenverkleidung des Wagens wahrnehmen. Weitere Versuche, den Brand zu löschen, blieben erfolglos. Nach Eintreffen der Angehörigen der Feuerwehr um 4.12 Uhr wurde die Räumung des Tunnels veranlasst. Durch die sich schnell ausbreitende Hitze und Rauchentwicklung wurde die Brandbekämpfung erheblich erschwert. Infolge der beim Brand entstandenen starken Hitze sind die stählernen Stützen des Tunnels verworfen bzw. in ihrer Festigkeit soweit gemindert worden, dass es gegen 5.30 Uhr zum Einsturz des Tunnels und zum Herabfallen der darüber befindlichen Freitreppe des Personaleingangs des Centrum-Warenhauses kam.

Die Tatsache der Flammenbildung unter der Sitzbank für Schwerbeschädigte wurde zum Anlass genommen, gleiche Wagentypen zu überprüfen. Dabei wurde festgestellt, dass sich dort die sogenannten Lichtrelaiskästen für die Innenbeleuchtung der Fahrzeuge befinden. Die Lichtrelaisanlage besteht im Wesentlichen aus einem Vorwiderstand, einem Relais und den notwendigen Kabeln. Die Untersuchungen ergaben weiter, dass 13 Vorwiderstände Merkmale zu hoher Temperaturen in Form von Zerstörungen des Schutzlackes und der Isolierungen der Kabel aufwiesen. Die Pertinaxplatten, auf denen diese Vorwiderstände aufgeschraubt sind, als auch die hinter einer Asbestplatte vorhandenen Holzteile des Lichtrelaiskastens, an welchen die Vorwiderstände mit ihrer Pertinaxplatte befestigt sind, zeigten vielfach Brandmerkmale in Form von Rußablagerungen, Einbrennungen oder teilweiser Zerstörung der Substanz durch zu hohe Temperaturen.

Nach Bergung des Wagens mit der Nummer 175 523–7, in dem der Brand ausgebrochen war, konnten unter dem beschriebenen Sitz die elektrischen Installationen für die Innenbeleuchtung vorgefunden werden.

Diese Installationen wiesen starke Brandmerkmale einschließlich der Verschmelzung von Metallteilen der Installation auf. Diese Brandmerkmale setzen sich von dort auf die angrenzenden Teile des U-Bahnwagens in Form besonders starker Brandzehrungen und -zerstörungen fort. Gleichartige Branderscheinungen sind in keinem der anderen Wagen vorgefunden worden. Weiter konnte aus der Lage des Vorwiderstandes und der Aufschmelzung von Teilen der Anschlusskabel desselben zweifelsfrei bewiesen werden, dass der Vorwiderstand zum Zeitpunkt des Brandausbruches auf dem Boden gelegen oder in Schrägstellung gehangen haben muss. Das wird weiter durch Einschlüsse von Asbestfasern in den beschriebenen Aufschmelzungen bewiesen.

Die in diesem Zusammenhang geführten Untersuchungen bezüglich der Zweckbestimmung und Wirkungsweise der Lichtrelaisanlagen für die Innenbeleuchtung ergaben:

Im Jahre 1949 traten ernsthafte Störungen in der Versorgung des U-Bahnwagenparks mit Glühlampen auf, während Leuchtstofflampen für den 110-Volt-Betrieb ausreichend zur Verfügung standen. Daraufhin wurde eine konstruktive Lösung für den Einsatz von Leuchtstofflampen vorgeschlagen, die im Wesentlichen vorsah, dass in jedem Wagen zwei unabhängige Stromkreise installiert werden. Jeder Stromkreis wurde mit fünf Leuchtstofflampen in Reihe geschaltet bestückt, was eine Spannungsabnahme von 550 Volt bedeutet. Da die U-Bahn jedoch mit einer Nennspannung von 800 Volt betrieben wird, wurde den fünf Leuchtstofflampen ein Vorwiderstand vorgeschaltet, dessen Aufgabe im Verbrauch der verbleibenden restlichen 250 Volt besteht.

Dabei wird die durch den Widerstand verbrauchte Energie in Form von Wärme abgegeben. Die Schaltung der geschilderten Elemente erfolgt über ein Relais. Die Absicherung der Anlage wurde damals zur Vermeidung einer Überbelastung mit 0,5 Ampere festgelegt.

Für die Unterbringung der Anlage wählte man im Triebwagen den Bereich des Fahrerstandes und im Beiwagen den beschriebenen Sitz aus. Gleichfalls ist bereits die Auskleidung der angrenzenden Flächen mit Asbest zum Schutz vor Wärmestrahlung festgelegt worden.

Nach erfolgter Umrüstung der Wagen wurde immer wieder festgestellt, dass Sicherungen ansprachen bzw. Leuchtstofflampen durchbrannten. Bei daraufhin erfolgten Messungen der Spannung wurde ermittelt, dass in betriebsarmen Zeiten oder während der Betriebsruhe sich die Nennspannung von 800 Volt auf 900 bis 950 Volt erhöhte, was gleichzeitig eine Erhöhung der Stromstärke (Ampere) nach sich zieht. Die auftretende Überspannung muss ebenfalls durch eine Mehrleistung des Vorwiderstandes verbraucht werden, wodurch sich seine Oberflächentemperatur entsprechend erhöht. Messungen im Zusammenhang mit den jetzt geführten Untersuchungen erbrachten gleichfalls die genannten Erhöhungen der Spannung.

Trotz dieser Mängel, die sich dann auch in den beschriebenen Merkmalen einer zu hohen Temperatur am Vorwiderstand und den angrenzenden Teilen auswirkten, wurden zur damaligen Zeit und auch später, wie die bisherigen Untersuchungen zeigen, keine Versuche zu ihrer Beseitigung unternommen, um damit einer Brandgefahr entgegenzuwirken.

Im Jahre 1953 erfolgte eine konstruktive Veränderung der Anlage dahingehend, indem die Absicherung der Stromstärke von 0,5 Ampere auf 6 Ampere erhöht wurde. Damit entstanden neue Gefahrenmomente, weil durch die hohe Absicherung der Anlage eine ständige Überbelastung möglich ist.

Bei den experimentellen Untersuchungen wurde festgestellt, dass sobald der Betriebsstrom 0,5 Ampere erreicht, am Vorwiderstand eine Temperatur von ca. 350° C entsteht.

Daraus ergibt sich an der dem Vorwiderstand zugewandten Fläche der Pertinaxplatte eine Temperatur von 100° C. Messungen und Beobachtungen in diesem Zusammenhang haben ergeben, dass sich ab dieser Temperatur das Pertinax zersetzt und dabei Gase, es handelt sich in der Hauptsache um Phenolprodukte, freisetzt. Diese freiwerdenden Gase entzünden sich ab ca. 420° C, welche am Vorwiderstand bei einem Betriebsstrom von 0,58 Ampere erreicht werden. (Diese Erhöhung der Stromstärke entspricht einer Erhöhung der Nennspannung von 800 Volt auf 900 bis 950 Volt. Bei einer vorhandenen Gaskonzentration erfolgt nach der Zündung ein schneller Abbrand der Gase und der Pertinaxplatte mit nachfolgender Entzündung der an den Lichtrelaiskästen angrenzenden brennbaren Materialien.

In diesem Zusammenhang wirkte sich das Herunterhängen des Vorwiderstandes bzw. seine Lage am Boden des Lichtrelaiskastens fördernd auf die Entstehung des Brandes aus, weil in dieser Lage ein Temperaturaustausch zwischen Luft und Widerstand nur noch bedingt möglich ist. Die durchgeführten Experimente ergaben weiter, dass ca. 45 bis 50 Minuten ausreichend sind, um den Brand hervorzurufen. Das entspricht der objektiv ermittelten Zeit, die zwischen dem Zuschalten des Gleises 3 am 4.10.1972, gegen 3.00 Uhr, durch den Stellwerker [Name 4] und der Brandfeststellung durch den Arbeitszugführer [Name 5] gegen 3.55 Uhr liegt.

Das durch die ersten Brandzeugen beschriebene Ausmaß des Brandes wird, wie das Experiment bewies, in ca. drei bis fünf Minuten nach Brandentstehung erreicht. Insgesamt kann deshalb die Schlussfolgerung gezogen werden, dass der Brand im Wagen Nummer 175 523–7 durch Inbrandsetzen der Gase und der Pertinaxplatte infolge der Überhitzung des Vorwiderstandes entstanden ist.

Im Zuge aller durchgeführten Untersuchungen sind keine Verdachtsmomente auf ein vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln von Personen im Zusammenhang mit dem am 4.10.1972 entstandenen Brand festgestellt worden.

Die auf der Grundlage der festgestellten Brandentstehungsursache geführten Untersuchungen über die Pflege und Wartung der Lichtrelaisanlagen ergaben, dass die dazu vorliegenden Arbeitscharakteristiken den mit der Durchführung betrauten Personen nicht genügend bekannt sind. Sie werden deshalb kaum verwirklicht. Oft beschränkt sich die Revision der Lichtanlagen auf ein Einschalten der Leuchtstofflampen, und wenn diese brennen, unterbleibt jede weitere Kontrolle, besonders im Hinblick auf den Zustand des Lichtrelaiskastens.

Obwohl das Reparaturpersonal wiederholt Zerstörungen der Pertinaxplatten oder der Vorwiderstände infolge zu hoher Temperaturen festgestellt hat, erfolgte keine konsequente Auswechslung solcher Teile, weil eindeutige Anweisungen, wann das Auswechseln zu erfolgen hat, bisher fehlen. Die für die Kontrolle der Revision Verantwortlichen kommen ihrer Pflicht gleichfalls nicht genügend nach, weil auch hier entsprechende Weisungen fehlen. In der Regel wird täglich von 25 bis 30 durchlaufenden U-Bahnwagen nur einer kontrolliert. Die Art und Weise der Durchführung von Revisionen wirkte sich als begünstigender Fakt für die Entstehung des Brandes vom 4.10.1972 aus.

Die Überprüfung aller elektrotechnischen Anlagen in den U-Bahnwagen zur Gewährleistung der Betriebs-, Verkehrs- und Brandsicherheit ergab, dass diese Anlagen mit Ausnahme des Lichtrelaissystems den vorgeschriebenen Normativen entsprechen und eine hohe Sicherheit gewährleisten.

Im Zusammenhang mit den durchgeführten Untersuchungen wurde besonderes Augenmerk auf die Feststellung von Mängeln und Missständen im Bereich des Kombinatsbetriebes U-Bahn der BVB gelegt und Maßnahmen zu ihrer unverzüglichen Beseitigung eingeleitet.

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