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Verstärkte Anfragen über Reisemöglichkeiten in die BRD

28. Juni 1972
Information Nr. 609/72 über verstärkte Anfragen von Bürgern der DDR, besonders an staatliche Organe, über Reisemöglichkeiten in die BRD und nach Westberlin

Dem MfS wurde bekannt, dass im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Verkehrsvertrages1 zwischen der DDR und der BRD von Bürgern der DDR verstärkt Diskussionen geführt und Spekulationen angestellt werden, inwieweit jetzt Reisemöglichkeiten in die BRD und nach Westberlin bestehen. Gleichzeitig erhöhen sich in allen Bezirken der DDR Anfragen, Antragstellungen und Versuche, unberechtigt Reisegenehmigungen in die BRD oder nach Westberlin noch vor Inkrafttreten des Verkehrsvertrages zu erwirken.

Nach den MfS bisher vorliegenden Hinweisen sind in den letzten Monaten ca. 2 000 Anfragen, Antragstellungen und Eingaben von Bürgern der DDR an staatliche bzw. Parteiorgane gerichtet worden. Überwiegend sind solche Anfragen, die telefonisch oder persönlich erfolgten, bei den Meldestellen der Volkspolizei und beiden Räten der Gemeinden, Kreise und Bezirke eingegangen mit dem Ziel, Auskünfte über Ausreisemöglichkeiten nach der BRD und nach Westberlin zu erhalten.

Schwerpunkte sind die Bezirke

  • Erfurt (ca. 600 Anfragen)

  • Halle (ca. 200 Anfragen – besonders in den Kreisen Merseburg und Wittenberg-Lutherstadt)

  • Leipzig (ca. 100 Anfragen – besonders im Kreis Wurzen).

In den anderen Bezirken der DDR liegen ca. 40 bis 180 diesbezügliche Anfragen vor.

In der Hauptstadt erfolgten ca. 110 telefonische Anfragen beim Präsidium der Volkspolizei und ca. 160 telefonische bzw. persönliche Anfragen bei VP-Inspektionen.

Die anfragenden Bürger traten in den meisten Fällen sachlich auf und erhielten die Auskunft, dass der Verkehrsvertrag noch nicht ratifiziert sei und demzufolge die durch die DDR vorgesehenen Reiseerleichterungen noch nicht wirksam werden können. Circa 25 Personen reagierten jedoch daraufhin besonders negativ und äußerten sich dahingehend, dass

  • die von den VP-Angehörigen gegebenen Argumentationen nicht stichhaltig seien,

  • der Verkehrsvertrag nur auf dem Papier stehen würde,

  • nur einseitige Vorteile für Westdeutsche und Westberliner bestehen würden,

  • man sich bei »höheren Stellen« beschweren wolle.

Einige dieser Personen legten bei ihrer beabsichtigten Antragstellung in den VPKÄ von Ärzten der BRD ausgestellte Atteste über Krankheiten von in der BRD lebenden Verwandten vor in der Absicht, damit eine »dringende Familienangelegenheit« zu begründen und sofort entsprechende Genehmigungen für Ausreisen zu erhalten.

In diesem Zusammenhang wurde bekannt, dass in der BRD bzw. WB wohnhafte Verwandte aufgefordert werden, dringende Familienangelegenheiten durch Bescheinigungen und ärztliche Atteste vorzutäuschen.

Andere Bürger dieser Personenkreise berufen sich während ihrer Anfrage bei den Volkspolizei-Kreisämtern auf Artikel westdeutscher Zeitungen bzw. auf Kommentare westlicher Rundfunkstationen, in denen angeblich die Freizügigkeit des Reiseverkehrs in die BRD und nach Westberlin propagiert worden sei.

In provokatorischer Absicht wurden in den VPKÄ in Einzelfällen Ausschnitte aus westdeutschen Zeitungen mit diesbezüglichen Aussagen, z. B. mit der Überschrift: »Mehr Reisefreiheit für DDR-Bürger«,2 vorgelegt.

In zwei Fällen wurde bekannt, dass Betriebe (VEB Berliner Bremsenwerk und VEB Schlachthof Jena) Anträge auf private Ausreisen befürworteten.

Offensichtlich ist, dass der größte Teil der Bürger, die Anfragen stellten bzw. Anträge auf Ausreise einreichten, in Unkenntnis der konkreten Sachlage gehandelt hat. Diese Bürger sind unzureichend darüber informiert, dass der Verkehrsvertrag noch nicht ratifiziert ist und demzufolge die durch die DDR vorgesehenen Reiseerleichterungen noch nicht wirksam sind. Unklarheiten bestehen in diesem Zusammenhang mehrfach über den Begriff »dringende Familienangelegenheiten«.

Von den meisten Antragstellern wird als Grund der beabsichtigten Ausreise

  • Regelung von Erbschaftsangelegenheiten,

  • Geburtstage, Hochzeiten und Geburten,

  • Krankheits- und Sterbefälle,

  • Verwandtenbesuche,

  • Urlaubsaufenthalt,

  • Einladung zur Olympiade3

angegeben.

Der Personenkreis der Antragsteller setzt sich aus allen Schichten der Bevölkerung zusammen. Untersuchungen der Beschäftigten- und Altersstruktur ergaben jedoch, dass der Anteil der Angehörigen der Intelligenz, der Angestellten und Hausfrauen etwas höher liegt als der anderen Bereiche. Die altersmäßige Zusammensetzung der Antragsteller lässt erkennen, dass ca. 70 % 40 bis 55 Jahre und ca. 28 % 25 bis 40 Jahre alt sind.

Weitere Untersuchungen ergaben, dass sich unter den Antragstellern eine Anzahl von Rückkehrern und Erstzuziehenden aus der BRD befindet, bei denen eingeschätzt wird, dass sie die Möglichkeit der Reise in die BRD bzw. nach Westberlin nutzen wollen, um ungesetzlich die DDR wieder zu verlassen. Es handelt sich dabei um solche Rückkehrer und Erstzuziehende, die in der Vergangenheit wiederholt Anträge auf Rückführung oder Übersiedlung nach Westdeutschland gestellt haben bzw. wegen versuchten ungesetzlichen Verlassens der DDR straffällig geworden waren.

Der Verkehrsvertrag spielt in der Diskussion von Teilen der Bevölkerung der DDR eine größere Rolle, insbesondere im Zusammenhang mit den in Aussicht gestellten Reiseerleichterungen. Wiederholt wurde auf Äußerungen des Genossen Dr. Kohl4 verwiesen, wonach bei dringenden Familienangelegenheiten Reisen von DDR-Bürgern in die BRD erfolgen könnten.

Im Zusammenhang mit dem Verkehrsvertrag gibt es eine Reihe spekulativer Erwägungen hinsichtlich uneingeschränkter Reisemöglichkeiten der Bürger der DDR in die BRD und nach Westberlin.

In Argumenten wird die Tendenz festgestellt, den Vertrag nur als einseitig zu bezeichnen, wobei die »Vorteile«, die nur für BRD-Bürger geschaffen worden seien, herausgestellt werden.

Es wird Aufschluss darüber erwartet, was unter »dringenden Familienangelegenheiten« zu verstehen sei und ob diese Regelungen auch territoriale Auslegungen zuließen.

Während ein Teil der Bürger äußert, unter »dringend« seien nur Todesfälle und Hochzeiten zu verstehen, erklären andere, die Auslegungen würden bis zu Geburtstagen von Verwandten reichen.

In Einzelfällen wird hervorgehoben, dass unter dem Vorwand dringender Familienangelegenheiten dann ständig ein Besuch in der BRD möglich sei, da sich dieser Vorwand leicht konstruieren und organisieren ließe.

Weitere Tendenzen in den Äußerungen von Bürgern der DDR lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  • Unverständnis äußern Personenkreise mit einer positiven politischen Grundhaltung darüber, dass ihnen die Ausreise nicht gestattet werden wird, weil sie entsprechende berufliche Funktionen bekleiden und als Geheimnisträger geführt würden, während indifferente und negative Elemente, die in der BRD sicher nicht würdig die DDR vertreten, in den Genuss der Reiseerleichterungen kommen.

  • (In diesem Zusammenhang gibt es im Bezirk Halle einzelne Fälle – Buna-Werke und Technische Hochschule für Chemie Merseburg –, dass mittlere leitende Kader und Angestellte, die als Geheimnisträger verpflichtet sind, sich um eine andere Tätigkeit bemühen bzw. eine VS-Verpflichtung ablehnen.)

  • Man sollte alle DDR-Bürger reisen lassen. Es würden fast alle wieder zurückkommen, da seit 1961 über zehn Jahre vergangen seien, der Lebensstandard sich merklich erhöht habe und das Bewusstsein der Menschen gestiegen sei.

  • Es müsste mit der BRD eine »Auslieferungsklausel« ausgehandelt werden, sodass kein DDR-Bürger in der BRD bleiben könne.

  • Es wird damit gerechnet, dass Ausreisen bereits zu den Olympischen Spielen möglich sein werden.

  • Beschäftigte des Industriezweiges »Wismut« bringen zum Ausdruck, dass ihnen der Verkehrsvertrag nichts nützen wird, da für sie schon immer Sonderbestimmungen auf diesem Gebiet bestanden hätten. Einzelne Beschäftigte diskutieren über die Möglichkeit, vorzeitig vor Erreichung des Rentenalters zu kündigen, um Reisen in die BRD bzw. nach Westberlin genehmigt zu bekommen.

  1. Zum nächsten Dokument Entwicklung des Reise- und Transitverkehrs (26.6.–2.7.)

    3. Juli 1972
    Information Nr. 622/72 über die Abfertigung und Abwicklung des Reise- und Besucherverkehrs Westberliner Bürger in die DDR und des Transitverkehrs von zivilen Personen und Gütern zwischen der BRD und Berlin (West) in der Zeit vom 26. Juni bis 2. Juli 1972 – Dauerregelung –

  2. Zum vorherigen Dokument Entwicklung des Reise- und Transitverkehrs (19.6.–25.6.)

    26. Juni 1972
    Information Nr. 604/72 über die Abfertigung und Abwicklung des Reise- und Besucherverkehrs Westberliner Bürger in die DDR und des Transitverkehrs von zivilen Personen und Gütern zwischen der BRD und Berlin (West) in der Zeit vom 19. bis 25. Juni 1972 – Dauerregelung –