Versuchte Fahnenflucht und Selbsttötung eines NVA-Offiziers
2. März 1972
Information Nr. 197/72 über die versuchte Fahnenflucht und anschließende Selbsttötung eines Offiziers der Grenztruppen der NVA am 23. Februar 1972
Am 23.2.1972, gegen 22.50 Uhr, wurde im Abschnitt der Grenzkompanie Riebau des Grenzregimentes Salzwedel, Bezirk Magdeburg, Hauptmann Goertzen, Alfred,1 geboren am 18.6.1941 in Gdansk, wohnhaft in Klötze, [Straße, Nr.], Stellvertreter des Kompaniechefs für politische Arbeit in der Nachrichtenkompanie Peckfitz, Grenzregiment Gardelegen, innerhalb der pioniertechnischen Sicherungsanlagen tot aufgefunden.
G. war beim Versuch der Fahnenflucht in die BRD durch eine Minendetonation schwer verletzt worden und hatte sich unmittelbar danach mit einem eigenhändig beigebrachten Kopfschuss aus der Dienstpistole »Makarow« selbst getötet.
Die bisherigen Untersuchungen des MfS ergaben:
Goertzen hatte sich am 18.2.1972 während des Ausgangs mit mehreren Unterführern seiner Diensteinheit im Kulturhaus »Altmark« in Mieste, Kreis Klötze, aufgehalten, wo übermäßig Alkohol getrunken wurde. Nach Rückkehr in das Dienstobjekt forderte der Goertzen den Unterfeldwebel [Name 1], der am Gaststättenbesuch teilgenommen hatte, auf, mit ihm widernatürliche Beziehungen2 aufzunehmen.
[Name 1] erstattete am Abend des 22.2.1972, nach Rückkehr des Kompaniechefs, Hauptmann Thim,3 aus dem Urlaub, Meldung über das Vorkommnis. [Name 1] teilte weiter mit, dass Goertzen bereits im Dezember 1971 versucht hatte, mit [Name 1] widernatürliche Beziehungen aufzunehmen.
Bei der am Morgen des 23.2.1972 stattgefundenen Aussprache zwischen dem Kompaniechef und Goertzen gab G. nach anfänglichem Leugnen während einer Gegenüberstellung mit Unterfeldwebel [Name 1] den von diesem geschilderten Sachverhalt zu.
Hauptmann Thim unterließ es, aufgrund Unterschätzung möglicher Auswirkungen, seinem Vorgesetzten über dieses Vorkommnis unverzüglich Meldung zu erstatten.
Unter dem Vorwand, sich mit seiner Ehefrau über dieses Vorkommnis aussprechen zu wollen, ersuchte Goertzen den Kompaniechef um die Gewährung von dienstfrei, was ihm bis zum Dienstantritt am 23.2.1972, 17.00 Uhr, genehmigt wurde.
G. verließ zu diesem Zweck am 23.2.1972, gegen 11.00 Uhr, mit seinem privaten Motorrad die Dienststelle.
Im Ergebnis durchgeführter Überprüfungen wurde festgestellt, dass G. nur kurzzeitig seine Wohnung aufsuchte und nicht mit seiner Ehefrau gesprochen hat, die sich zu diesem Zeitpunkt in ihrer Arbeitsstelle befand. In der Zeit von 12.00 Uhr bis 13.00 Uhr suchte G. seine in Harpe, Kreis Osterburg, wohnhaften Eltern auf, denen gegenüber er als Grund des Besuches die Erledigung dienstlicher Angelegenheiten in der Nähe ihres Wohnortes angab. Beim Verlassen seiner Eltern erwähnte G., dass er auf der Rückfahrt zur Dienststelle noch seine in Pollitz, Kreis Osterburg, wohnhaften Schwiegereltern aufsuchen wollte, bei denen er jedoch nicht eintraf.
Sein Verbleib bis zum Zeitpunkt der versuchten Fahnenflucht ist ungeklärt.
Als Goertzen am 23.2.1972, um 17.00 Uhr, nicht zum Antritt des befohlenen Leitungsdienstes erschienen war, erstattete Hauptmann Thim über dessen Abwesenheit und das ihm am 22.2.1972 bekannt gewordene Vorkommnis mit G. Meldung an den Stab des Grenzregimentes Gardelegen.
Am 23.2.1972, gegen 18.10 Uhr, bemerkten die im Abschnitt der Grenzkompanie Riebau, Grenzregiment Salzwedel, eingesetzten Grenzposten eine Personenbewegung in Richtung DDR – BRD. Auf einen sofortigen Aufruf reagierte die Person nicht. Noch bevor den Grenzposten die Anwendung der Schusswaffe möglich gewesen sei, soll sich die unbekannte Person in ein unübersichtliches Gebüsch in Richtung Staatsgrenze entfernt haben. Die Grenzposten verständigten sofort den Führungspunkt der Grenzkompanie von dieser Wahrnehmung und erhielten den Befehl, die Suche nach dem Grenzverletzer aufzunehmen. Unmittelbar danach vernahmen diese Grenzposten eine Minendetonation sowie einen anschließenden leiseren, für sie nicht bestimmbaren, Knall.
Die anschließende erste Suche in Richtung der wahrscheinlichen Bewegung des Grenzverletzers verlief ergebnislos.
Die aufgrund der Meldung über das Fehlen des Hauptmann Goertzen und der Vorkommnisse im Abschnitt der Grenzkompanie Riebau im Zusammenwirken der Grenzregimenter Gardelegen und Salzwedel eingeleiteten Maßnahmen zur verstärkten Grenzsicherung führten – beeinträchtigt durch ungünstige Witterungsbedingungen (Nebel) – erst gegen 22.50 Uhr zum Auffinden des tödlich verletzten Grenzverletzers in den pioniertechnischen Sicherungsanlagen ca. 20 m von der Staatsgrenze DDR – BRD entfernt.
Die aufgrund der Einsichtmöglichkeiten des Gegners in den Tatort sofort vorgenommene und gegen 1.00 Uhr abgeschlossene Bergung der Leiche verlief ohne Vorkommnisse.
Im westlichen Vorfeld wurden keine gegnerischen Bewegungen beobachtet.
Der Grenzverletzer wurde am Tatort als der überfällige Goertzen identifiziert.
G. war mit einem Watteanzug und einer Dienstuniform der NVA bekleidet. In der rechten Hand der Leiche befand sich die Dienstpistole im entsicherten, durchgeladenen und gespannten Zustand. Im Magazin befanden sich vier Patronen.
An der Leiche fehlt der linke Fuß bis zur Wade; an der rechten Schläfe des Kopfes und linksseitig am Hinterkopf befanden sich je ein Schussloch.
Der Tote trug bei seinem Auffinden u. a.
- –
einen Dienstausweis
- –
einen Dienstauftrag für Kontrollaufgaben im Grenzabschnitt Gardelegen/Salzwedel
- –
einen Urlaubsschein (23.–24.2.1972)
- –
einen Urlaubsschein (4.–15.2.1972)
- –
einen Urlaubsschein (blanko)
- –
sowie 1773,40 M in bar
bei sich.
Die am 24.2.1972 in der Medizinischen Akademie vorgenommene Obduktion ergab, dass der Tod des Goertzen eindeutig durch Selbsttötung mit der Pistole eingetreten ist. Zu erwähnen ist, dass Goertzen den Grenzabschnitt des Grenzregimentes Salzwedel und dessen pioniertechnische Sicherung durch seine frühere Tätigkeit als Zugführer und seinen Einsatz als Nachrichtenoffizier gut gekannt hatte, jedoch nicht über die erst kürzliche Komplettierung der pioniertechnischen Sicherungsanlagen informiert war.
Der bei dem Toten aufgefundene Dienstauftrag berechtigte G. am 23.02.1972 zur Kontrolle der Grenzmeldenetzanlagen im Abschnitt Gardelegen/Salzwedel. Die im Dienstauftrag enthaltenen Angaben sowie die Unterschrift des Auftrages waren nachweisbar von G. gefälscht worden.
Als gefälscht erwies sich auch der bei dem Toten vorgefundene Urlaubsschein für die Zeit vom 23. bis 24.2.1972 nach Mechau, Kaulitz und Pollitz, der mit dem Stempel der Dienststelle Klötze (seit Umstrukturierung aufgelöst) und einer unleserlichen Unterschrift versehen war.
Die versuchte Fahnenflucht des Goertzen wurde durch folgende Umstände begünstigt:
- –
Der Kompanieführer, Hauptmann Thim, unterließ es, seinem Vorgesetzten unverzüglich nach Bekanntwerden des negativen Verhaltens des G. zu informieren und gewährte ihm ohne Einleitung von Sicherungsmaßnahmen dienstfrei. Der zuständige Mitarbeiter des MfS war von diesem Vorkommnis nicht informiert worden.
- –
Die befehlswidrige Aufbewahrung von Dienstaufträgen im Führungspunkt der Nachrichtenkompanie ermöglichte es G., sich unbemerkt in den Besitz eines Dienstauftrages zu setzen.
Zur Person des Täters:
Goertzen entstammt einer Landarbeiterfamilie. Seine Eltern, zuletzt in der LPG Harpe, Kreis Osterburg, beschäftigt, sind Rentner.
Nach der Einberufung des G. zur NVA/Grenze absolvierte er die Unteroffiziersschule in Dingelstedt und von 1961 bis 1964 die Offiziersschule »Rosa Luxemburg« in Plauen.
Anschließend erfolgte sein Einsatz als Zugführer in der Grenzkompanie Kaulitz, Grenzregiment Salzwedel. Von 1965–1966 war er als hauptamtlicher FDJ-Sekretär im Grenzbataillon Ziemendorf eingesetzt und danach bis 1971 als Stellvertreter für politische Arbeit in der ehemaligen Nachrichtenkompanie der Grenzbrigade Kalbe/Milde tätig.
Nach der Umstrukturierung der Grenztruppen wurde er mit der gleichen Dienststellung in der Nachrichtenkompanie Peckfitz, Grenzregiment Gardelegen, eingesetzt.
Goertzen ist seit 1960 Mitglied der SED, übte in der Vergangenheit verschiedene Funktionen aus und war seit seinem Einsatz in der Nachrichtenkompanie Peckfitz Sekretär der SED-Grundorganisation. In dieser Funktion leistete er eine gute Arbeit.
Während seiner Dienstzeit in der NVA wurde er mehrfach für gute militärische und politische Leistungen belobigt, prämiert und ausgezeichnet.
Im Oktober 1970 heiratete G. die in einer Konsum-Verkaufsstelle in Klötze als Verkäuferin tätige [Vorname], geborene [Name 2], und lebte mit ihr in geordneten Verhältnissen.
G. traf 1970 – anlässlich seiner Hochzeit – mit drei in der BRD wohnenden Brüdern des Schwiegervaters zusammen, worüber er seinem Dienstvorgesetzten Meldung erstattet hatte.
Außer der durch die widernatürlichen Beziehungen entstandenen Konfliktsituation ergaben die bisherigen Untersuchungen keine weiteren Ursachen, Motive oder Zusammenhänge zur Straftat.
Es wird empfohlen, die aus der Information ersichtlichen begünstigenden Bedingungen – besonders hinsichtlich der Unterlassung einer Informierung des zuständigen Mitarbeiters des MfS – auszuwerten.