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Versuchter ungesetzlicher Grenzübertritt Ungarn–Österreich

6. Juli 1972
Information Nr. 635/72 über einen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritt durch zwei Personen der DDR von der Ungarischen Volksrepublik nach Österreich

Am 13. Juni 1972 wurden die DDR-Bürgerinnen [Name 1, Vorname 1], geboren am [Tag, Monat] 1948, ohne erlernten Beruf, zuletzt tätig als Sachbearbeiterin beim VEB Elektroapparatewerke Berlin-Treptow, Hoffmannstraße, wohnhaft: 1195 Berlin-Baumschulenweg, [Straße, Nr.] und [Name 2, Vorname] geboren am [Tag, Monat] 1950, ohne erlernten Beruf, zuletzt tätig als Hilfskrankenschwester im Städtischen Krankenhaus Berlin-Köpenick, 117 Berlin, Achenbachstraße 2/8, wohnhaft: 117 Berlin-Köpenick, [Straße, Nr.] beim Versuch, die Staatsgrenze der Ungarischen Volksrepublik nach Österreich zu überschreiten, durch die Sicherheitsorgane der Ungarischen Volksrepublik festgenommen und die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit Haft wegen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts. Am 20.6.1972 erfolgte die Übergabe an die Sicherheitsorgane der DDR.

Die durch das MfS bisher geführten Untersuchungen ergaben:

Die [Name 1] ist die Tochter des beim Zentralkomitee der SED als politischer Mitarbeiter tätigen Genossen [Vorname 2 Name 1]. Ihre Mutter arbeitet als Maschinenarbeiterin im EAW Treptow und ist ebenfalls Mitglied der SED.

Beide Elternteile waren in der Vergangenheit ständig bemüht, ihre Tochter zu einer fortschrittlichen Bürgerin zu erziehen. Die [Name 1] selbst war Mitglied der FDJ, des DRK und des FDGB. Vor ihrer Tätigkeit im EAW Treptow begann sie jeweils eine Lehre als Tierzüchterin und später als Verkäuferin, die von ihr jedoch in beiden Fällen nicht abgeschlossen wurde.

Nach der Scheidung ihrer Eltern im Jahre 1968 verließ sie das Elternhaus und bewohnte ein Einzelzimmer, das ihr durch ihren Vater vermittelt worden war. In der Folgezeit unterhielt sie sowohl zu ihrem Vater als auch zu ihrer Mutter nur noch losen Kontakt. Ihren Vater hat sie ihren Angaben zufolge nach 1968 etwa fünfmal aufgesucht und sonst keine weiteren Kontakte zu ihm gepflegt.

Ihren Angaben zufolge war das Verhältnis zu ihrem Vater seit dem erwähnten Zeitpunkt stark getrübt, da sie im Januar 1968 im Saalbau in Berlin-Friedrichshain den in Westberlin als sogenannten Gastarbeiter aufenthältlichen italienischen Staatsbürger [Name 3, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1942, wohnhaft: Alba Adriatica/Teramo (Italien) [Straße, Nr.], tätig von Januar bis Mai 1968 als Hilfsarbeiter bei einer Stofffabrik in Westberlin, seit Juli 1968 tätig als Lehrer in Ascola-Potcheno/Italien, bei dessen besuchsweisen Aufenthalt in der Hauptstadt der DDR kennenlernte und entgegen dem Willen ihres Vaters in der Folgezeit mit dem Italiener intime Beziehungen unterhielt.

Da die [Name 1] das zwischen ihr und dem Italiener bestehende intime Verhältnis nicht löste und ihr Vater Anfang des Jahres 1968, entgegen seiner Zustimmung, von dem italienischen Bürger in seiner Wohnung aufgesucht worden war, veranlasste Genosse [Name 1] im Mai 1968 über das MdI betreffs des italienischen Staatsbürgers [Name 3] eine Einreisesperre für das Staatsgebiet der DDR.

Nach Angaben der [Name 1] kehrte der [Name 3] aufgrund der gegen ihn verhängten Einreisesperre nach Italien zurück und unterhielt weiterhin postalische Verbindungen zu ihr.

Nach Aufhebung der Einreisesperre im Jahre 1970, die aus bisher noch nicht geklärten Gründen erfolgte, führte [Name 3] in den folgenden Jahren jährlich ca. zwei Reisen nach Westberlin durch, in deren Rahmen es bei besuchsweisen Aufenthalten in der Hauptstadt der DDR zu erneuten persönlichen Zusammentreffen mit der [Name 1] in deren Wohnung sowie in der Wohnung ihrer Schwester, [Name 4, Vorname], wohnhaft: 1195 Berlin, [Straße, Nr.], kam.

Die [Name 1], die beabsichtigte, mit [Name 1] die Ehe einzugehen, trug sich aufgrund dessen sowie wegen der bei ihr in den letzten Jahren herausgebildeten Einstellung gegen bestimmte Teilbereiche der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR mit dem Gedanken, die Republik ungesetzlich zu verlassen, ohne zunächst konkrete Maßnahmen zur Realisierung dieses Vorhabens zu treffen.

Im Mai 1972 erhielt die [Name 1] von ihrer Arbeitsstelle für sich und ihre Bekannte, [Name 2, Vorname], zu der sie seit längerer Zeit einen freundschaftlichen Kontakt unterhielt, zwei Urlaubsplätze für den Zeitraum vom 1.6. bis 14.6.1972 in einem Urlauberaustauschheim in Balatonföldvar/Ungarische Volksrepublik.

Nachdem die [Name 1] und [Name 2] am 31. Mai 1972 die vorgenannte Reise angetreten hatten, entschloss sich die [Name 1] im Verlaufe der Bahnfahrt, den Touristenaufenthalt in der Ungarischen Volksrepublik zum ungesetzlichen Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik auszunutzen.

Von dieser Absicht unterrichtete sie unmittelbar danach die [Name 2], die sich daraufhin diesem Vorhaben anschloss.

Nachdem sich beide bis zum 6. Juni 1972 in dem vorgenannten Urlauberheim aufgehalten hatten, reisten sie entsprechend ihrem gemeinsamen Plan, die ungarisch-jugoslawische Staatsgrenze ungesetzlich zu überschreiten, um über die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien nach Italien zu gelangen, zu dem in Grenznähe gelegenen Ort Letenye. Dort gerieten sie in eine Ausweiskontrolle der ungarischen Grenzsicherungsorgane. Da die [Name 1] und [Name 2] vorgaben, aus Unkenntnis in das Grenzgebiet gelangt zu sein, wurden sie lediglich aus diesem Gebiet verwiesen.

Sie kehrten daraufhin zunächst in das Urlauberheim in Balatonföldvar zurück und hielten sich dort bis zum 12. Juni 1972 auf.

Zwischenzeitlich waren sie übereingekommen, einen erneuten Versuch zum ungesetzlichen Grenzübertritt an der ungarisch­österreichischen Staatsgrenze zu unternehmen und reisten zu diesem Zweck in die in Grenznähe gelegene Ortschaft Csorna, wo ihre Festnahme erfolgte, nachdem sie bereits die ersten Grenzsicherungsanlagen überwunden hatten.

Nach Aussagen der [Name 1] hatte der mit ihr befreundete Italiener keine Kenntnis von ihrem Versuch, die DDR ungesetzlich über die VR Ungarn zu verlassen. Er habe auch in keiner Weise an der Vorbereitung und Durchführung ihres Vorhabens mitgewirkt.

Die Eltern der [Name 1] hatten von dem Vorhaben ihrer Tochter, die DDR ungesetzlich zu verlassen, keine Kenntnis.

Genosse [Vorname 2 Name 1] erschien am 30. Juni 1972 bei der Abteilung I a des Generalstaatsanwaltes von Groß-Berlin, um sich nach den Gründen für die Inhaftierung seiner Tochter zu erkundigen. Gleichzeitig ersuchte er um Erteilung einer Sprecherlaubnis.

Genosse [Name 1] wurde über die Gründe des gegen seine Tochter eingeleiteten Ermittlungsverfahrens unterrichtet und ihm für den 7. Juli 1972 eine Sprecherlaubnis erteilt.

  1. Zum nächsten Dokument Entwicklung des Reise- und Transitverkehrs (3.7.–9.7.)

    10. Juli 1972
    5. Information Nr. 643/72 über die Abfertigung und Abwicklung des Reise- und Besucherverkehrs Westberliner Bürger in die DDR und des Transitverkehrs von zivilen Personen und Gütern zwischen der BRD und Berlin (West) in der Zeit vom 3. bis 9. Juli 1972 – Dauerregelung –

  2. Zum vorherigen Dokument Vorkommnis mit sowjetischem Staatsbürger auf Transitstrecke

    3. Juli 1972
    Information Nr. 625/72 über ein Vorkommnis unter Beteiligung eines sowjetischen Staatsbürgers auf der Transitstrecke/Autobahn Hirschberg – Drewitz am 1. Juli 1972