Vorkommnis zwischen Jugendlichen und sowjetischen Soldaten
28. Juli 1972
Information Nr. 715/72 über ein Vorkommnis zwischen jugendlichen DDR-Bürgern und Angehörigen der Sowjetarmee am 23. Juli 1972 in Königsbrück, Kreis Kamenz, Bezirk Dresden
Dem MfS wurde bekannt, dass es am 23.7.1972 in der Zeit von 0.30 bis 2.30 Uhr nach einer Tanzveranstaltung in Königsbrück auf dem dortigen Karl-Marx-Platz1 zu Tätlichkeiten seitens jugendlicher DDR-Bürger gegenüber Angehörigen der Sowjetarmee kam. Bei diesen tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen der DDR und Angehörigen der Sowjetarmee wurde ein sowjetischer Offizier niedergeschlagen.
(Nach mündlichen Angaben der sowjetischen Kommandantur sollen vier sowjetische Armeeangehörige Verletzungen in Form von Prellungen und Blutergüssen erlitten haben.)
An diesen tätlichen Auseinandersetzungen waren nach den bisherigen Ermittlungen sechs sowjetische Armeeangehörige und ca. 20 jugendliche DDR-Bürger beteiligt.
Als aktivste Teilnehmer an diesen Tätlichkeiten wurden ermittelt:
[Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1952, wohnhaft Königsbrück, [Straße, Nr.], Maschinenführer im VEB Asbest-Zement Porschendorf, parteilos, Mitglied des FDGB, 1971 mit einer Geldstrafe wegen Körperverletzung vorbestraft. [Name 2, Vorname],geboren [Tag, Monat] 1949, wohnhaft Königsbrück, [Straße, Nr.], Korrektor VEB GGV, Betriebsteil Königsbrück, parteilos, Mitglied des FDGB. [Name 3, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1954, wohnhaft Königsbrück, [Straße, Nr.], Presser im VEB Preßwerk Ottendorf, parteilos, Mitglied des FDGB. [Name 4, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1952, wohnhaft Königsbrück, [Straße, Nr.], Schleifer im VEB Ascoblock Königsbrück, parteilos, nicht organisiert. [Name 5, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1945, wohnhaft Laußnitz, [Straße, Nr.], Diesellokfahrer im VEB Kieswerk Ottendorf-Okrilla, parteilos, Mitglied des FDGB, der DSF, 1972 Bestarbeiter.2
Gegen diese fünf Personen wurden von der DVP Ermittlungsverfahren gemäß § 215 StGB3 (Rowdytum) mit Haft eingeleitet.
Seitens der DVP ist vorgesehen, gegen zwei weitere Jugendliche [Name 6] und [Name 7] Ermittlungsverfahren nach § 215 StGB mit Haft einzuleiten, da sie nach den bisherigen Untersuchungsergebnissen ebenfalls am Niederschlagen des sowjetischen Offiziers beteiligt gewesen sein sollen.
Auch der Jugendliche [Name 8] soll sich zum Teil daran beteiligt haben. Durch die VP soll gegen ihn ein Ermittlungsverfahren nach § 215 StGB ohne Haft eingeleitet werden.
Die Ermittlungen zum Sachverhalt ergaben bisher Folgendes:
Nach Beendigung der Tanzveranstaltung im Hotel »Schwarzer Adler« in Königsbrück am 23.7.1972, gegen 0.30 Uhr, verließen die Gäste das Gebäude. Dabei bildeten sich – wie meist nach diesen Veranstaltungen – auf dem vor dem »Schwarzen Adler« befindlichen Karl-Marx-Platz zwanglos Gruppen von Jugendlichen.
An der Tanzveranstaltung hatten fünf bis sechs sowjetische Armeeangehörige des Standortbereiches Königsbrück (die Zivil trugen) teilgenommen.
Sie sollen dort nach Angaben von Jugendlichen die bevorstehende Rückkehr eines unter ihnen weilenden Offiziers in die Sowjetunion gefeiert haben. Sie verließen gegen 0.30 Uhr ebenfalls die Gaststätte.
Aus dem Kreis der auf dem Karl-Marx-Platz versammelten Jugendlichen versuchte der Jugendliche [Name 3], der in erheblichem Maße angetrunken war, zu dieser Zeit auf ein Mädchen einzureden und es zu belästigen. Das Mädchen ersuchte daraufhin einen sowjetischen Armeeangehörigen, der mit den anderen gemeinsam aus der Gaststätte trat, und mit dem sie während der Tanzveranstaltung oft getanzt hatte, ihr zu helfen und den [Name 3] zur Ordnung zu rufen.
Der sowjetische Offizier wurde – ohne dass er sich bereits an [Name 3] gewandt hatte – sofort von [Name 3], der das Gespräch zwischen dem Mädchen und dem sowjetischen Offizier verfolgt hatte, attackiert und von ihm mit Fäusten geschlagen.
Zu diesem Zeitpunkt mischten sich zuerst weitere etwa sechs Jugendliche der DDR und daraufhin auch die anderen sowjetischen Offiziere in diese Schlägerei ein.
Die sowjetischen Armeeangehörigen versuchten, da sie in der Minderheit waren, sich in Richtung ihrer Unterkünfte zurückzuziehen.
Während die Schlägerei zwischen den etwa sieben Jugendlichen der DDR und den sechs sowjetischen Armeeangehörigen andauerte, wurden sowohl die DDR-Bürger als auch die sowjetischen Freunde von ca. 20 weiteren Jugendlichen der DDR, die den an der Auseinandersetzung Beteiligten vom Karl-Marx-Platz aus folgten, durch Zurufe angefeuert und zu weiterem Schlagaustausch ermuntert. Zwei bis drei weitere Jugendliche der DDR sollen zu diesem Zeitpunkt ebenfalls noch begonnen haben, auf die sowjetischen Armeeangehörigen einzuschlagen. Besonders durch diese »Anfeuerungsrufe« entstand ein ziemlicher Lärm, durch den eine in der Nähe befindliche sowjetische Standortstreife aufmerksam wurde.
Einer der Streifenangehörigen gab, nachdem er feststellte, dass die sowjetischen Armeeangehörigen von DDR-Jugendlichen geschlagen und bedrängt wurden, einen Schuss aus der Pistole in die Luft ab. Von diesem Zeitpunkt an sei die Schlägerei beiderseitig eingestellt worden.
Danach sei (nach Aussagen der Jugendlichen) aus Richtung der Unterkunft der sowjetischen Freunde eine weitere Streife mit MPi und aufgepflanzten Bajonetten erschienen, die von Rufweite aus die Jugendlichen, die zum Teil in Richtung Karl Marx-Platz ausweichen wollten, aufgefordert hätte, stehenzubleiben und sich auf die Straße zu setzen. Nachdem dieser Aufforderung nicht einheitlich Folge geleistet wurde (einzelne Jugendliche versuchten weiterhin, sich in Richtung Karl-Marx Platz zurückzuziehen), habe einer der Streifenposten eine Salve von zwei bis drei Schuss aus der MPi in die Luft geschossen. Daraufhin setzte sich ein Teil der Jugendlichen sofort auf die Straße, andere gingen in Deckung und einige liefen davon. Durch die Streifenposten wurden sechs Jugendliche, die auf die sowjetischen Armeeangehörigen eingeschlagen hatten, festgenommen und der sowjetischen Kommandantur zugeführt.
Die Jugendlichen, die bis dahin auf der Straße gesessen hatten, standen auf, trafen auf dem Weg in die Stadt zum Teil wieder mit den anderen Jugendlichen, die bei Abgabe der Schüsse davongelaufen waren, zusammen und begaben sich (etwa 20 Jugendliche) ins Zentrum der Stadt vor die sowjetische Kommandantur. Dort lärmten sie etwa 15 Minuten lang mit »Buh«-Rufen und Pfeifen, wobei sie ihren Unwillen über die Festnahme der sechs Jugendlichen, die Abgabe von Schüssen durch die sowjetischen Streifenangehörigen und den »Anspruch« der sowjetischen Armeeangehörigen »auf ihre Mädchen« zum Ausdruck brachten. Mehrfach riefen sie: »Gebt unsere Freunde wieder heraus.«
Der inzwischen durch Bürger von Königsbrück informierte ABV der DVP begab sich, während die ca. 20 Jugendlichen noch vor der Kommandantur lärmten, in die Kommandantur und stellte die Personalien der sechs dort befindlichen DDR-Bürger fest. Da der ABV das Vorkommnis nicht an Ort und Stelle klären konnte, wurden die DDR-Bürger aus der Kommandantur entlassen. Danach löste sich die Ansammlung vor der Kommandantur auf. Bis dahin waren diese Personen den mehrfachen Aufforderungen des ABV, diesen Platz zu verlassen, nicht nachgekommen.
Die bisherigen Ermittlungen ergaben weiter, dass alle Beteiligten (nach Aussagen der Jugendlichen der DDR auch die sowjetischen Armeeangehörigen) unter Einwirkung von Alkohol standen. Die inhaftierten Jugendlichen hatten zum Teil fünf bis 15 Glas Bier und mehrere Schnäpse getrunken.
Zwischen Jugendlichen aus Königsbrück und Umgebung und sowjetischen Armeeangehörigen habe es in der Vergangenheit wiederholt Differenzen, die bisher jedoch nicht in Schlägereien ausgeartet waren, wegen der in Königsbrück und Umgebung wohnhaften Mädchen gegeben. Die DDR-Jugendlichen hätten sich bereits des Öfteren eifersüchtig, unwillig und zum Teil streitsüchtig gezeigt, wenn sowjetische Armeeangehörige mit den Mädchen tanzten.
Darin sind nach den bisherigen Untersuchungen auch die Motive für die rowdyhaften Handlungen der Jugendlichen gegenüber den sowjetischen Armeeangehörigen zu suchen. Politische Motive konnten bisher nicht erarbeitet werden.
Bei den bisher inhaftierten Jugendlichen der DDR handelt es sich um Arbeiter, die bisher politisch nicht in Erscheinung traten.
Vom MfS und der DVP werden Ermittlungen zur weiteren Klärung des Sachverhalts geführt.