Vorsätzlicher Mord an einem Leutnant einer Grenzkompanie
27. Januar 1972
Information Nr. 91/72 über einen vorsätzlichen Mord am Leutnant der Grenztruppen der NVA, Meier, Lutz, am 18. Januar 1972 im Abschnitt der Grenzkompanie Schierke, [Kreis] Wernigerode, [Bezirk] Magdeburg
Am Dienstag, dem 18.1.1972, gegen 9.20 Uhr, wurde im Abschnitt der Grenzkompanie Schierke des Grenzregimentes Blankenburg – Grenzkommando Nord – der zur 6-Meter-Kontrollstreife eingesetzte Leutnant und Zugführer der NVA-Grenztruppen Meier, Lutz,1 geboren: 20.10.1948 in Ahlsdorf, wohnhaft gewesen Ahlsdorf, Kreis Eisleben, [Straße, Nr.], NVA seit: 29.8.1968, Mitglied der SED, verheiratet, ein Kind, von seinem Begleitposten, Soldat Kinzel, Detlef,2 geboren: [Tag, Monat] 1951 in Berlin, wohnhaft: Neuenhagen, Kreis Strausberg, [Straße, Nr.], NVA seit: 4.5.1971, Wehrpflichtiger, verheiratet, ein Kind durch einen aus dessen Maschinenpistole »Kalaschnikow« abgegebenen Schuss in die linke hintere Rumpfseite tödlich verletzt.3 Anschließend wurde Kinzel unter Mitnahme der ihm zum Grenzdienst übergebenen Maschinenpistole Typ »Kalaschnikow« sowie der Maschinenpistole gleichen Typs des Genossen Leutnant Meier über die 60 m vom Tatort entfernte und an dieser Stelle nicht pioniertechnisch gesicherte Staatsgrenze in die BRD fahnenflüchtig.
Die Tatortuntersuchungen sowie gerichtsmedizinischen Obduktionsbefunde ergaben eindeutig, dass Leutnant Meier in Ausübung seines Dienstes von dem Begleitposten Kinzel durch Schüsse aus einer Maschinenpistole, Modell »Kalaschnikow«, und einer Schussdistanz von etwa 5 m vorsätzlich getötet wurde. Aus der genannten Distanz wurden von Kinzel mindestens drei Schüsse auf Leutnant Meier abgegeben, wobei Leutnant Meier einen Bauchdurchschuss erhielt, der zu folgenden Verletzungen führte:
Verletzung der elften und zwölften Rippe, Durchbohrung des Zwerchfells, Zerreißung der Milz, des oberen Pols der linken Niere, Durchschuss der Wirbelsäule in Höhe des zwölften Brust- und ersten Lendenwirbelkörpers mit Durchtrennung des Rückenmarks und Bluterguss in den Wirbelkanal, Zerreißung der rechten Niere, des rechten Leberlappens, Zertrümmerung der zwölften Rippe rechts, Bluterguss in Bauch- und linker Brusthöhle.
Diese beschriebenen Verletzungen sind ihrer Natur nach so schwer, dass selbst unter Einsatz moderner medizinischer Mittel eine vollständige oder auch teilweise Wiederherstellung des Betroffenen nicht möglich gewesen wäre und sie somit tödlich waren.
Die Verletzungen hatten ein sofortiges Niederstürzen in Rückenlage zur Folge und fernerhin nach allen einschlägigen Erfahrungen den Ausschluss einer jeglichen Fortbewegungsmöglichkeit, da die Durchtrennung des Rückenmarks eine Querschnittlähmung nach unten bewirkte. Eine Handlungs- bzw. Bewegungsfähigkeit der oberen Gliedmaßen blieb – wenn auch nur kurzfristig – erhalten.
Fernerhin fand sich ein weiterer Einschuss an der Unterseite des Kinns mit einer entsprechenden Ausschussöffnung im Bereich des Stirnbeins.
Dieser sofort tödlich wirkende Schädeldurchschuss wurde von Leutnant Meier nach Erhalt des Bauchdurchschusses in Rückenlage aus seiner Dienstpistole, Modell »Makarow«, eigenhändig, offensichtlich aufgrund der äußerst schmerzhaften Verletzungen, verursacht. Hierfür sprechen u. a. die anatomisch-topografische Lage des Einschusses, die Zeichen eines absoluten Nahschusses, der Schusskanalverlauf und Lage und Zustand der Pistole.
Kinzel hat sich nach der Tat unter Mitnahme der Maschinenpistole des Leutnant Meier in Richtung der Staatsgrenze entfernt und nach etwa 40 m mindestens zwei Feuerstöße aus seiner Tatwaffe abgegeben.
Die durch das MfS durchgeführten Untersuchungen zur Person des fahnenflüchtigen Mörders Kinzel ergaben:
Kinzel entstammt der Ehe des Angehörigen der VP-Feuerwehr [Vorname] mit der gegenwärtig als Küchenhilfe im Krankenhaus Neuenhagen beschäftigten [Vorname] geborene [Name 1]. Diese Ehe wurde 1955 geschieden.
Er wuchs im Haushalt der Mutter, die 1957 mit dem Maurer [Vorname Name 2] eine zweite Ehe einging, in sozial geordneten Verhältnissen auf. Aus Interessenlosigkeit beider Elternteile erfolgte keine intensive politische Einflussnahme auf Kinzel, u. a. wurde ihm der fortgesetzte Empfang westlicher Hetzsender gestattet.
Kinzel verließ, weil er Geld verdienen wollte, die polytechnische Oberschule bereits 1966 aus der 8. Klasse und erlernte anschließend im VEB Berliner Bremsenwerk den Beruf eines Betriebsschlossers, den er in diesem Betrieb ausübte, bis am 4.5.1971 zur Ableistung des Grundwehrdienstes seine Einberufung zu den Grenztruppen erfolgte.
Kinzel heiratete am 10.4.1970 die Fachverkäuferin [Vorname Name 3].
Nach seiner Einberufung erhielt er in der Grenzausbildungseinheit Halberstadt eine Grundausbildung. Am 28.10.1971 kam er im 1. Zug der Grenzkompanie Schierke als Soldat und Posten zum Einsatz.
Nach Rückkehr des Kinzel aus dem Weihnachtsurlaub 1971 machte er dem Politstellvertreter der Grenzkompanie, Genossen Hauptmann Hess,4 darüber Mitteilung, dass seine Ehefrau außereheliche Beziehungen unterhält und er deshalb die Scheidung beantragen will. Zwischenzeitlich sind von Kinzel auch die zur Scheidungsklage notwendigen Unterlagen eingereicht worden, worüber er ebenfalls den Politstellvertreter der Grenzkompanie informierte.
Er wurde daraufhin durch den amtierenden Kompaniechef, Hauptmann Poppe,5 – entgegen den Einwänden des Abwehroffiziers des MfS, ihn bis zur Klärung der Familienangelegenheit nicht zum Dienst in der Grenzlinie einzusetzen – für den 18.1.1972 als Begleitposten in der Zeit von 7.00–14.00 Uhr befohlen.
Genosse Leutnant Meier und der Kinzel versahen erstmalig gemeinsam Grenzdienst.
Der durch den Kinzel vorsätzlich ermordete Leutnant Meier wurde als uneheliches Kind der Verkäuferin [Vorname] geboren. Er lebte im Haushalt seiner Mutter in geordneten sozialen Verhältnissen.
Nach Absolvierung der 10. Klasse der polytechnischen Oberschule erlernte Leutnant Meier im VEB Mansfeld-Kombinat Hettstedt den Beruf eines Elektromonteurs, den er anschließend dort ausübte. Während der Lehrausbildung legte er im Abendstudium das Abitur ab.
Im Elternhaus politisch positiv beeinflusst, trat er der FDJ, der DSF und dem FDGB bei, bekleidete in der FDJ verschiedene Funktionen und wurde 1968 Mitglied der SED.
Am 29.8.1969 erfolgten seine Einberufung zur NVA und die sofortige Delegierung zur Offiziershochschule der Grenztruppen in Plauen. Dort zeigte er gute Leistungen und arbeitete als Mitglied der Parteileitung gesellschaftlich aktiv mit. Er wurde als ehrgeizig, diszipliniert und gewissenhaft eingeschätzt.
Nach Abschluss der Offiziershochschule erfolgte Anfang Oktober 1971 sein Einsatz als Zugführer des 4. Zuges in der Grenzkompanie Schierke.
Gegen Kinzel wurde in Abstimmung mit dem Generalstaatsanwalt der DDR ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes eingeleitet und Haftbefehl erlassen.
Nach Abstimmung zwischen dem Generalstaatsanwalt der DDR und dem MfS wird vorgeschlagen, an den Generalbundesanwalt der BRD ein Ersuchen um Auslieferung des Kinzel zu richten, dem ein richterlicher Haftbefehl beigefügt ist. Im Haftbefehl werden die Art und Weise der Tötung und die zum Tode führenden Verletzungen angeführt, ohne dass eine Übergabe von Beweismaterial zum Tathergang erfolgt.
In diesem Zusammenhang wird vorgeschlagen, am Tage der Absendung des Auslieferungsersuchens, eine Pressenotiz folgenden Wortlauts zu veröffentlichen:
Die Pressestelle beim Generalstaatsanwalt der DDR teilt mit:
Der Generalstaatsanwalt der DDR hat gegen den in der BRD befindlichen Gewaltverbrecher wegen des von diesem am 18.1.1972 an dem Leutnant der Nationalen Volksarmee, Lutz Meier, begangenen Mordes ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und auf der Grundlage des erlassenen Haftbefehls von den zuständigen Behörden der BRD dessen Auslieferung gefordert.6