Direkt zum Seiteninhalt springen

Wort der Bischöfe der evangelischen Landeskirchen in der DDR

24. Januar 1972
Information Nr. 70/72 über ein »Wort der Bischöfe der evangelischen Landeskirchen in der DDR« zum Beschluss des Politbüros der SED und des Ministerrates über die Ausarbeitung einer Verordnung zur Schwangerschaftsunterbrechung

Die evangelischen Bischöfe der DDR haben auf einer gemeinsamen Sitzung am 15.1.1972 ein »Wort der Bischöfe der evangelischen Landeskirchen in der Deutschen Demokratischen Republik vom 15. Januar 1972«1 angenommen (siehe Anlage). Dieses »Wort« stellt die bereits erwartete Stellungnahme der evangelischen Kirche zur Schwangerschaftsunterbrechung2 dar (siehe dazu auch unsere Information Nr. 27/72).

In ihrem Inhalt richtet sich diese Stellungnahme – wie auch die der katholischen Kirche3 – mit Bezug auf das Gebot der Erhaltung »auch des keimenden Lebens« gegen die geplante Verordnung und verweist auf die sich möglicherweise ergebenden Folgen. Die Kirchenmitglieder werden aufgerufen, von der Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs keinen Gebrauch zu machen.

Über das Zustandekommen dieser Erklärung wurde dem MfS intern bekannt:

Bereits am 7. und 8.1.1972 fand eine Beratung der Konferenz der Kirchenleitungen in Berlin4 statt, an der alle evangelischen Bischöfe der DDR teilnahmen. Auf dieser Beratung wurde über eine Stellungnahme der evangelischen Bischöfe zum vorgesehenen Gesetz über die Schwangerschaftsunterbrechung diskutiert.

Präsident Natho/Dessau5 berichtete auf dieser Beratung, dass am 5.1.1972 eine Delegation des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR6 mit Staatssekretär Seigewasser7 und Vertretern des Ministeriums für Gesundheitswesen über die geplante Gesetzgebung eine Aussprache geführt habe. Die Vertreter des Ministeriums für Gesundheitswesen hätten dabei zum Ausdruck gebracht, dass das Ziel die »geplante Familie« sei. In der DDR, so erklärten die Vertreter des Ministeriums für Gesundheitswesen, gebe es heute noch 50 000 Fehlgeburten im Jahr, die durch Abtreibungen hervorgerufen würden.

Die kirchlichen Vertreter hätten bei diesem Gespräch klar zu verstehen gegeben, dass die Kirche sich mit dieser geplanten Gesetzgebung nicht einverstanden erklären könne. Das ganze Gespräch sei ein »werbendes Informationsgespräch« gewesen.

Von den Teilnehmern an der Konferenz der Bischöfe am 7. und 8.1.1972 wurde einmütig gefordert, dass die Kirche zu diesem Problem nicht schweigen dürfe.

Von einigen Teilnehmern wurden Vorschläge unterbreitet, Eingaben an die Volkskammer zu organisieren.

Bei dieser Gelegenheit führte Bischof Schönherr/Berlin8 aus, dass heute nicht dieselbe Lage gegeben sei wie 19509 oder 1965.10 Man müsse ein kurzes Wort als erste Information herausgeben. Zur umfassenden Gesamtbearbeitung des Komplexes brauchte man Zeit.

Er sagte: »Wir müssen vermeiden, dass wir ausgelacht werden; heute kann eine Äußerung nur in der Richtung erfolgen: Die Möglichkeit ist gegeben, aber wir warnen: Lasst die Finger davon.«

Auf dieser Konferenz wurde beschlossen, dass die evangelischen Bischöfe der DDR bis zum 15.1.1972 ein solches »Wort« zur Orientierung an die Pfarrer erarbeiten werden.

Bis Ende Januar soll allen Pfarrern in der DDR das »Wort« zur persönlichen Information und Auswertung zugeleitet worden sein. Eine Orientierung zur Kanzelabkündigung oder anderweitigen Publizierung erfolgte nicht.

Diese Information darf aus Gründen der Sicherheit der Quellen nicht öffentlich ausgewertet werden.

Anlage zur Information Nr. 70/72

Wort der Bischöfe der evangelischen Landeskirchen in der Deutschen Demokratischen Republik vom 15. Januar 1972

Am 23. Dezember 1971 wurde in der Presse ein gemeinsamer Beschluss des Politbüros der SED und des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik bekanntgegeben.11 Danach soll gesetzlich geregelt werden, dass künftig jede Frau bis zum Ablauf von drei Monaten selbst entscheiden kann, ob sie ihre Schwangerschaft unterbrechen möchte.

Wir können diese Ankündigung einer so erheblichen Freigabe des Schwangerschaftsabbruches nur mit tiefer Bestürzung hören. Um des Evangeliums willen sehen wir uns verpflichtet, den Gliedern unserer Kirchen und allen, die es hören wollen, fürs Erste Folgendes zu sagen:

Gott hat uns mit der Fähigkeit, neues Leben zu zeugen, zugleich die Verantwortung für dieses Leben übergeben. Auch keimendes Leben ist nicht unser Eigentum, sondern selbstständiges, von Gott uns anvertrautes Leben. Die Ehrfurcht vor dem Leben (Albert Schweitzer) empfinden wir gerade dort, wo Leben wehrlos und schutzbedürftig ist. Der Abbruch einer Schwangerschaft ist Tötung menschlichen Lebens. Gott hat mit dem Gebot »Du sollst nicht töten« menschliches Leben bejaht und beschützt. Es gibt Grenzfälle, in denen die Tötung dennoch verantwortet werden muss; aber Grenzfälle sind Ausnahmen, die Gottes Gebot nicht aufheben.

Bereits 1965 haben die evangelischen Kirchen das alles klar ausgesprochen.12 Wir wiederholen es heute nachdrücklich.

Wir verstehen wohl, dass Frauen und Mädchen durch eine Schwangerschaft in erhebliche innere und äußere Not geraten können, weil sie die Schwangerschaft nicht wollten oder weil ihre augenblicklichen Lebens- und Wohnverhältnisse eine Schwangerschaft unmöglich erscheinen lassen. Wir alle wissen aber auch, dass uns heute vielfältige Möglichkeiten der Geburtenregelung gegeben sind, und wir sehen darin den besseren Weg, unsere Verantwortung vor künftigem Leben wahrzunehmen. Der Abbruch der Schwangerschaft ist kein möglicher Weg.

Niemand überschaut heute alle sich aus dem Schwangerschaftsabbruch möglicherweise ergebenden körperlichen, seelischen und sittlichen Schädigungen. Wir müssen aber schon jetzt auf einige schwerwiegende Fragen hinweisen:

Die geplante Regelung, die den Abbruch der Schwangerschaft nahezu unbeschränkt freigibt, legt die Last der Verantwortung allein auf die werdende Mutter. Sie wird dadurch – zumal am Anfang ihrer Schwangerschaft – in vielen Fällen psychisch und auch sachlich überfordert sein. Sehr leicht kann in solcher Situation der aus Gedankenlosigkeit oder Egoismus stammende Rat anderer Menschen die eigene Entscheidung der betroffenen Frau verhindern.

Die geplante Regelung stellt die Ärzte, die durch ihr berufliches Ethos verpflichtet sind, Leben zu erhalten, vor schwere Gewissensfragen. Ärzte und Schwestern werden überdies von ihrem beruflichen Wissen her vor schwierige Entscheidungen gestellt. Verantwortliche Vertreter des Staates haben zugesichert, dass keine Frau zum Abbruch einer Schwangerschaft gezwungen und kein Arzt zur Vornahme dieses Eingriffes genötigt werden soll. Dennoch ist – wenn auch ungewollt – durch solche Freigabe der Tötung unerwünschten Lebens auf die Länge der Zeit eine allgemeine Abstumpfung der Gewissen im Blick auf den Wert des Lebens unausbleiblich. Ein Staat, der Ehe, Familie und Mutterschaft ausdrücklich unter seinen Schutz stellt, kann dies nicht wollen.

Die mit der vorgesehenen Freigabe des Schwangerschaftsabbruches zusammenhängenden Fragen, zu denen auch die des verantwortlichen Umganges der Geschlechter miteinander gehört, müssen in den Gemeinden, in den kirchlichen Ausbildungsstätten und Akademien vordringlich behandelt werden.

So bitten wir um das Evangelium willen alle, die es unmittelbar oder mittelbar betrifft:

Macht von der Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruches keinen Gebrauch!

Drängt niemanden dazu!

Sucht den Rat anderer Menschen Eures Vertrauens!

Lasst die betroffenen Frauen, Mädchen und Familien in dieser schweren Frage nicht allein!

  • gez. D. Fränkel (Bischof – Görlitz)

  • gez. D. Schönherr (Bischof – Berlin)

  • gez. Dr. Krusche (Bischof – Magdeburg)

  • gez. Dr. Hempel (Landesbischof – Dresden)

  • gez. Natho (Kirchenpräsident – Dessau)

  • gez. D. Dr. Krummacher (Bischof – Greifswald)

  • gez. Dr. Rathke (Landesbischof – Schwerin)

  • gez. D. Braecklein (Landesbischof – Eisenach)

  1. Zum nächsten Dokument Verpuffung in der Karbidfabrik des VEB Chemische Werke Buna

    25. Januar 1972
    Information Nr. 71/72 über eine Verpuffung in der Karbidfabrik des VEB Chemische Werke Buna, Bezirk Halle am 18. Januar 1972

  2. Zum vorherigen Dokument Reiseverkehr zwischen der DDR und Polen / ČSSR

    22. Januar 1972
    Information Nr. 74/72 über die Entwicklung des Reiseverkehrs zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen sowie zwischen der DDR und der ČSSR und damit zusammenhängende Probleme